Die Dschungel-Königin – Anna Wagner

Wenn man durch Niederzell zur Kirche Sankt Peter und Paul fährt, liegt linker Hand ein Garten mit Palmen, Bananen, Hibiskus, Baumfarnen und Indischem Rohr, exotischen Pflanzen, die man auf einer Bodenseeinsel, die nicht die Mainau ist, kaum vermuten würde. Dahinter ein Haus mit Anbau; das unverputzte Mauerwerk hat etwas Südländisches. Irgendwo zwischen den Sträuchern Anna Wagner, in Schürze und Gummistiefeln, bewaffnet mit Hacke, Gabel, Schaufel, Rechen. Daneben ein Eimer, ein Schubkarren. Tagaus, tagein pflanzt und häckelt sie, zupft Unkraut und gießt ihre grünen Schätze. Im Sommer ist sie jeden Tag vier Stunden mit dem Wasserschlauch zugange.

Im Garten steht eine große Voliere, wo Kanarienvögel brüten und zwitschern. Wie viele es sind, weiß sie nicht so genau, zwischen 25 und 30. „Sie glauben nicht, wie wunderbar das ist, wenn alle singen! Ich habe das schönste Konzert bei der Arbeit!“ Ab und zu entwischt einer, aber sie weiß, wie man sie zurücklockt: mit Futter natürlich. „Wenn sie Hunger haben, kommen sie schon wieder.“

Kanarienkonzert

Trotz der nie endenden Arbeit nimmt sie sich gerne Zeit für ein Schwätzchen. Nicht am Gartenzaun, denn ihr Garten hat keinen Zaun, sondern zwischen den Blumen, Stauden, Bäumen. Oder an der Straße. Wenn ich mit dem Auto anhalte und die Scheibe runterlasse, um sie kurz zu grüßen, kommt sie zu mir herüber, und wir bilden mitten auf der Straße ein ansehnliches Verkehrshindernis. Aber das stört sie nicht. „Wir haben auch ein Recht“, sagt sie dann und grüßt freundlich die Autofahrer, die sich mühsam um uns herumschlängeln.

Dann reden wir, über das Wetter und die Insel, und natürlich über Pflanzen. Sie kennt die lateinischen Namen aller Mitglieder ihrer grünen Familie. Das ist für sie selbstverständlich. Mit ihrem Mann Johann war sie jahrzehntelang in der ganzen Welt unterwegs. Wo immer sie interessante Gewächse sahen, haben sie Samen oder Setzlinge mitgenommen, um sie im heimischen Garten einzupflanzen. Und wenn man sich in Indonesien oder auf Madagaskar, in Neuseeland, Thailand, Ecuador, Costa Rica, Israel oder auf Galapagos mit den dortigen Gärtnerfreunden über Pflanzen verständigen will, dann geht das nur mithilfe der universellen Namensgebung, also auf Latein.

Treibende Kraft hinter Reisen und Sammlung war ihr Mann, der schon als Kind von fremden Ländern und tropischen Wäldern geträumt hatte. Sie waren gemeinsam im Dschungel, geführt von einem Medizinmann oder einem Ranger, sie haben giftige Schlangen und Spinnen, Warane und wilde Affen erlebt. „Man darf eben keine Angst haben“, sagt sie, „aber das hatte ich nie.“ Als Johann Wagner gegen Ende seines Lebens krank wurde, hat ihn die Familie immer mit dem Rollstuhl ins Gewächshaus gefahren. Hier war er glücklich. Besonders auf eine Pflanze hat er geachtet: Die Agave attenuata, die Schwanenhals-Agave. Als kleines Pflänzchen hatte er sie auf die Reichenau gebracht, sie ist inzwischen zu einem verzweigten Baum herangewachsen. Alle fünfzig Jahre einmal blüht sie. Ob ich das noch erleben werde, hat er sich und Anna gefragt. Und als ob sie es gehört hätte, hat die Agave vor seinem Tod eine Blüte getrieben, eine riesige Rispe mit tausenden von kleinen Blüten, gebogen wie ein Schwanenhals, daher der Name. „Ich bin überzeugt, dass die Pflanzen uns verstehen“, sagt Anna Wagner.

Agave attenuata
Schwanenhalsagave
im Gewächshaus von Wagners
Blühende Schwanenhalsagave in Madeira
(Bild von Emőke Dénes / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

Vor ein paar Jahren ist ihr Mann gestorben. Anna besucht ihn regelmäßig auf dem Friedhof bei St. Peter und Paul, inzwischen mit dem Rollator. „Der ist geschickt, da kann man was transportieren und ich kann mich auch mal hinsetzen.“ Sie versteht die Leute nicht, die sich sträuben, so ein Hilfsmittel anzunehmen. Den Garten bestellt sie seit seinem Tod allein. Das geht gut ohne Rollator. Ihr Enkel Danny hilft, wo es nötig ist, mit schwerem Gerät, denn die Bäume und Stauden stehen in riesigen Töpfen, die im Winter ins Gewächshaus kommen.

Das Gewächshaus. Dudendefinition Dschungel: „Undurchdringlicher tropischer Wald“

Ihr Gewächshaus ist so etwas wie das Allerheiligste von Anna Wagners Gartenreich. Hier zieht sie ihre Jungpflanzen, hier überwintern viele Sträucher, hier wachsen die Schlinger, die Exoten, die Blumen, die feuchtwarm brauchen. Dschungelklima eben. Passionsblumen in blau und rot bilden eine Art Dach, zusammen mit Tetrastigma, dem Kastanienwein, mit wild rankenden Kakteen und dem Fensterblatt, das essbare Früchte trägt, in Madeira Ananasbanane genannt. Darunter gedeihen Begonien, Bromelien, Kalanchoen, Clivia, Fuchsien, Tillandsien, verschiedene Farne und vor allem Orchideen, in einer Vielfalt von Farben und Formen, wie man sie sonst von der Mainau kennt. Anna Wagner hat jede einzeln gezogen und drapiert, an Gittern oder in Töpfen, so viele, dass ein normaler Mensch den Überblick verlieren würde. Nicht sie. Sie weiß genau, welche Pflanze wann zum Blühen kommt. „Schauen Sie da drüben, die Chysis! Ich dachte, schon, die wäre hinüber, aber sie ist so schön wiedergekommen! Und wie sie duftet! Und dort die Cattleya. Ist die Farbe nicht wunderbar?“

Rotblühende Passionsblume
Tetrastigma (Kastanienwein)
Fensterblatt mit Frucht
Tillandsien und Geweihfarn
Bromelien
Orchidee, nur über Rohren hängend
Orchidee im Topf, am Boden Jacobinien
Orchidee im Topf
Orchideen am Gitter
Die wohlduftende Chysis mit großen Bulben
Cattleya

Die Luftfeuchtigkeit im Sprühnebel des Treibhauses ist enorm, im Sommer brennt die Sonne auf das Glasdach, sodass man kaum atmen kann. Dschungel eben. Anna Wagner stapft in ihren Gummistiefeln scheinbar mühelos hindurch. „Kommen Sie mit, ich muss ihnen da hinten noch was zeigen.“ Schwer atmend bückt man sich unter einen Pflanzentunnel, um in den hinteren Teil des Glashauses vorzudringen. Es geht gerade so ohne Machete. Dafür wird man mit weiteren Exoten belohnt: Kakteen, Palmen, Feigen, Orangen, Amaryllis in diversen Farben, fruchtbehängte Baumtomaten, Dipladenia, Petrea mit Trauben von blauen Sternchen, der Zylinderputzerstrauch Callistemon oder prächtige Bougainvilleas in pink und rot. Aus Neuseeland stammt Metrosideros, mit Bündeln von roten Blütenfäden, die an Kissen erinnern. Flüssig geht ihr der lateinische Name über die Lippen, und damit ich auch etwas verstehe, erklärt sie mir: „Der Strauch mit den Püscheln wird in Neuseeland Weihnachtsbaum genannt.“

Auf dem Weg in den hinteren Teil des Gewächshauses
Orangen und Feigen
Amaryllis
Hibiskus
Kalanchoe
Petrea
Bougainvillea
Bougainvillea
Baumtomaten
Aloe vera aus Israel
Metrosideros oder neuseeländischer Weihnachtsbaum

Anna Wagner scheint die Hitze nichts auszumachen. Sie lebt mit ihren Pflanzen und für sie. Ihr Regiment in dem kleinen Dschungelstaat ist liebevoll und streng zugleich. Wenn eine Pflanze partout nicht blühen will, „dann muss ich halt manchmal mein Baumsägele nehmen.“ Sträucher werden im Herbst unerbittlich zurückgeschnitten, sonst hätten sie ja keinen Platz im Gewächshaus. „Mein Motto: Schneiden, schneiden, schneiden. Manchmal hab ich schon gedacht, oje, das war jetzt zu viel. Aber die kommen wieder. Und schöner als vorher!“ Die meisten Pflanzen danken ihr die Fürsorge, sie blühen und gedeihen. „Das ist mein Lebenselixier. Wenn ich am Morgen Kopfweh habe oder sonst etwas weh tut, egal, wenn ich ins Gewächshaus komme, dann kann ich das vergessen. Das hilft mir so viel! Ich freue mich jeden Tag darauf.“

Was bedeutet Ihr Garten für Sie?

Kann so ein Mensch noch Interessen außerhalb des eigenen Gartens haben? Aber ja! Sie ist aktives Mitglied der Gesellschaft für Natur und Kultur und der Deutschen Orchideengesellschaft. Für die Mainau hat sie eine Jahreskarte, mindestens fünfmal im Jahr stattet sie der Schwesterinsel einen Besuch ab. Um die Blumen zu genießen und Anregungen zu bekommen. Außerdem hat sie eine gut gefüllte Bibliothek. Hauptthema: Orchideen. Sie geht gern zu Konzerten des UHO, des Unterhaltungsorchesters Reichenau, oder der Jungmusik. „Das fehlt mir in diesen Corona-Zeiten sehr!“ Sie backt gerne Kuchen und Torten, über die sich alle in ihrer Umgebung freuen. Elf Stück an einem Tag war ihr persönlicher Rekord. Und sie liebt Ausflüge. Mit anderen Leuten zusammenkommen, fremde Landschaften sehen, etwas erleben. Mit dem Bus an den Ammersee oder nach Marbach zur Hengstparade, Hauptsache, unterwegs sein. „Ich bin schon immer gern fortgegangen. Mein Mann nicht so. Aber ich schon!“ Dazu ein spitzbübisches Lächeln.

Anna Wagner ist mittlerweile über achtzig, da ist alles nicht mehr so einfach. „Man hat eben das eine oder andere Malär.“ Sie kommt ursprünglich aus der Gegend von Saulgau, aber zwei Drittel ihres Lebens hat sie auf der Insel Reichenau verbracht. Als Schwäbin hatte sie es nicht immer leicht. Trotzdem, das Schwäbische legt man nicht ab, in manchen Wörtern kommt es noch durch. Am Ende unseres Rundganges, den ich mit Abstand und Mundschutz absolviert habe, bedanke ich mich, für den Genuss, für die Unterhaltung und für das Neue, das ich gelernt habe. „Vergelt’s Gott!“ Und wie es sich gehört, antwortet sie: „Segne‘s Gott!“

(Siehe auch Beitrag vom 28.2.2020, Die Palmendame)