Der Mordgehilfe

Im rechten Seitenschiff des Münsters Sankt Maria und Markus in Mittelzell steht der Stephanus-Altar, ein Blockaltar mit einem Holzrelief als Aufsatz. Es zeigt die Steinigung des Heiligen Stephanus. Sein Tod wird in der Apostelgeschichte beschrieben.

Stephanus (* ca. 1 n. Chr.; † ca. 36/40 n. Chr.) war ein jüdischer Christ, der als Diakon der christlichen Urgemeinde in Jerusalem lebte. Er verkündigte die Botschaft Jesu und überzeugte viele Juden vom Christentum. Deshalb musste er sich vor dem Hohen Rat in der Synagoge rechtfertigen. Während seiner Rede hatte er eine Vision, er sah den Himmel offen und Christus zur Rechten Gottes stehen. Für die erbosten Juden war das Gotteslästerung, sie führten ihn aus der Stadt und steinigten ihn. Ein Lynchmord also. Stephanus war der erste Christ, der als Märtyrer starb, daher wird er auch als Proto- oder Erzmärtyrer bezeichnet. Sein Fest wurde 380 auf den zweiten Weihnachtsfeiertag gelegt; er ist sozusagen der Erste, der dem neugeborenen Jesus huldigt, so wie er der Erste war, der ihm im Tod nachgefolgt ist. Interessantes Detail der Geschichte: Bei der Steinigung war ein junger Mann zugegen, der die Kleider der Henker hielt. Er hieß Saulus und war einer der führenden Köpfe der anschließenden Christenverfolgung, der spätere Apostel Paulus.

Der Schreiner und Bildhauer Hans-Ulrich Glöckler (1560 – 1611) aus Überlingen hat die Altartafel 1596 aus Lindenholz geschnitzt. Das hat auch den Holzwürmern geschmeckt, sodass manche Stellen heftig von Löchern entstellt sind. Stilistisch gehört die Darstellung zum Manierismus, jener Epoche zwischen Renaissance und Barock, in der die Künstler die Regeln der Renaissance beherrschen und mit ihnen spielen. Viele Figuren in unterschiedlichen Haltungen zeugen von der Kunstfertigkeit des Schnitzers, in diesem Fall sind es 15 einschließlich des Märtyrers. Auch die Tiefe der Schnitzerei mit mehreren Ebenen und die perspektivisch-naturalistische Darstellung von Menschen und Architektur weisen auf die hohe Qualität dieser Arbeit hin, selbst wenn manchmal ein Arm etwas weit nach hinten gerutscht oder Bein zu lang geraten ist.

Wir sehen Stephanus in der Mitte einer wilden Menschenmenge in Kleidern, wie sie wohl ein Diakon des 16. Jahrhunderts trug. Seine Hände sind in bittender/betender Geste ausgestreckt, der Gesichtsausdruck eher ratlos, sein Blick geht nach oben. Es ist der Moment, in dem das Gemetzel beginnt. Noch hat ihn kein Stein getroffen, er weist keine Wunden auf.

Die Schergen sind noch dabei, Wurfmaterial vom Boden aufzuheben und zu sammeln.

Einige haben bereits in dramatischer Geste die Arme erhoben, um ihre Geschosse auf ihn zu schleudern.

Die Henker tragen unterschiedliche Kleidung. Manche erkennt man an phantasievollen Rüstungen und Helmen als Soldaten.

Andere haben ihre Kleider abgelegt, um in Unterhose und Hemd freier agieren zu können. Da brauchte es den Saulus, um die Kleider so lange zu halten. Der ist auf dieser Tafel allerdings nicht dargestellt.

Einige sind an den Kopfbedeckungen als Hohepriester zu erkennen.


Stephanus‘ Blick geht nicht zu seinen Peinigern, er schaut nach oben, wo er den Himmel offen sieht, wie es in der Apostelgeschichte heißt.

Dort schwebt eine puttenbestückte Wolke, auf der Gottvater sitzt, die Erdkugel auf dem Schoß. Links von ihm steht Christus, aus Gottes Sicht zur Rechten, so wie Stephanus es gesagt hatte. Jesus hält das Kreuz im Arm, an den Händen sind die Nagelwunden und an der Brust die Wunde von Longinus‘ Lanze zu erkennen. Während Gottvater den Märtyrer segnet, scheint Christus ihm zuzuwinken. Der Künstler wollte wohl eher die Nagelwunde präsentieren und damit die Verbindung zwischen Christus und seinem ersten Nachfolger im Opfertod herstellen.

Die letzten Worte von Stephanus waren laut Apostelgeschichte: „Herr, rechne ihnen dies nicht zur Sünde an.“ Dann verschied er. Der Verfasser hat hier eine Parallele zu Jesus konstruiert, der am Ende sagte: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Auf unserer Tafel hat Stephanus das Martyrium allerdings noch vor sich. Sein Gesichtsausdruck scheint eher zu sagen: „Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“

Angesichts der erbarmungslos auf ihn einstürmenden Menschenmenge kann man seine Angst gut nachvollziehen.

Im Hintergrund der Tafel ist Jerusalem dargestellt, als mittelalterliche Stadt mit zinnenbekrönter Mauer, Türmen mit Schießscharten und fallgitterbewehrtem Tor. Man erkennt einen Rundtempel, das Symbol der Stadt Jerusalem, die Rotunde der Grabeskirche Jesu. Auch hier gibt es Zuschauer der Hinrichtung: auf dem Tor zwischen den Zinnen und an einem Fenster des Rundturms. Ihre Gesichter sind allerdings nicht erkennbar. Hat der Künstler sich dieses Detail erspart oder wurden sie später zerstört, aus Zorn über ihren Voyeurismus? Beschädigungen von Schergen auf Bildern z.B. von der Geißelung Jesu gab es immer wieder, wenn die Gläubigen aus Mitleid und heiligem Zorn wenigstens das Abbild der verhassten Henker bestrafen wollten.

Aber dann hätte es auf dieser Tafel wohl Figuren gegeben, bei denen der Impuls zur Zerstörung stärker gewesen wäre. Selbst ich hatte Mühe, sie emotionslos zu betrachten. Es sind nicht einmal so sehr die Hauptakteure – von denen erwartet man nichts anderes -, sondern einige Nebenfiguren, die mich betroffen gemacht haben.

Da ist zum einen die Frau mit dem runden Kinn und der Kapuze auf der linken Seite. Der Künstler hat ihr ein feines Lächeln verliehen, mit leicht gebeugtem Kopf schaut sie fast liebevoll auf Stephanus. Vielleicht eine heimliche Anhängerin, wie Maria Magdalena bei Christus unter dem Kreuz, die ihm Trost spenden will? Dann fällt der Blick auf ihre erhobene Hand. Darin trägt sie einen Stein, den sie dem Henker hinhält. Das Lächeln wirkt plötzlich hämisch und die Figur wird unerträglich in ihrer klammheimlichen Freude, mit der sie zum Tod des Märtyrers beiträgt.

Aber noch bestürzender sind die beiden Dargestellten in den unteren Ecken rechts und links: Es sind zwei Kinder. Das rechte Kind sitzt einfach da und schaut dem Spektakel neugierig und relativ unberührt zu, das ist wohl normal für ein Kind. Vielleicht hat seine Mutter es abgesetzt, um Steine zu sammeln, und nun sitzt es da und beobachtet, was die Erwachsenen so treiben.

Das Kind links hingegen beteiligt sich wie die Erwachsenen an dem grausamen Geschehen. Es scheint herbeizulaufen, mit geschürztem Hemd, in dem es Steine gesammelt hat, die für die kleinen Patschhände zu groß wären zum Tragen, voller Stolz. Schaut, wie fleißig ich war!

Diese Figur hat wie die Frau ein feines, zufriedenes Lächeln bekommen.

Doch wenn man sie genauer betrachtet, fällt auf, dass Stirn, Augen, Nase und Mund beschädigt sind. Waren das die Holzwürmer? Oder hat hier jemand aus Zorn sein Messer gezückt und diesen perfiden, kleinen Mordgehilfen bestraft?