Ein echter Reichenauer sollte seine Familie bis auf die Chronik von Hermann dem Lahmen (1113 – 1154) zurückführen können, mindestens aber bis zur Klosterzeit! Bei Karl Wehrle ist das der Fall, seine Familiengeschichte reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Vermutlich sind seine Vorfahren aus dem Schwarzwald eingewandert, um auf der Reichenau als Rebleute zu arbeiten, denn die Hälfte der Inselfläche bestand damals aus Weinbergen. Gemüseanbau gab es noch nicht.
Von Seiten seiner Frau Aniceta besitzt die Familie heute noch Reben. Auch sie stammt aus einer alteingesessenen Reichenauer Familie. Die Söhne Benedikt und Meinrad sind ebenfalls fest auf der Insel verwurzelt. Kein Wunder bei diesen Namen, war der Heilige Meinrad (797 – 861) doch Mönch im Benediktinerkloster Reichenau.
„Die Reichenauer sind von sich überzeugt“, sagt Karl Wehrle und verweist auf die starken Traditionen der Insel. „Das kann gut oder schlecht sein, es hat auf jeden Fall bewahrenden Charakter. Für Außenstehende ist es allerdings manchmal schwierig.“ Zur Tradition gehört auch die Musik. Fast jeder Reichenauer singt oder spielt ein Musikinstrument, oft auch mehrere, und das auf hohem Niveau. „Das hat vielleicht mit der Klostervergangenheit zu tun.“ Und wieder sind wir bei Hermann dem Lahmen, der Musikinstrumente gebaut, Lieder geschrieben und eine Notenschrift erfunden hat.
Karl Wehrle geht gemeinsam mit seiner Frau jeden Freitagabend in den Münsterchor (außer in Corona-Zeiten!). Als Tenor singt er auch Soli, zum Beispiel den Evangelisten in der Matthäuspassion am Palmsonntag. Sein Vater spielte Flügelhorn, Sohn Benedikt ist ebenfalls Hornist und Vorsitzender der Bürgermusik.
Sohn Meinrad hat lange Zeit Klavier im Unterhaltungsorchester gespielt, inzwischen ist er auf Orgel umgestiegen und begleitet die Gottesdienste im Münster.
Überhaupt das Münster. Das liegt Karl Wehrle sehr am Herzen, wie die religiöse Tradition insgesamt. „Wir leben schließlich auf einer Klosterinsel!“ Als Ministrant hat er angefangen, und noch heute gehört der sonntägliche Gottesdienst zum Rhythmus der Woche, er ist für ihn so etwas wie ein Haltepunkt, eine Möglichkeit zur Meditation.
Genauso gehören auch die speziellen Inselfeiertage zum Jahresablauf, als wichtige Zäsur im Alltag. „Sie werden leider immer weniger wichtig genommen“, sagt er, und: „Es braucht Leute, die an solchen Dingen festhalten!“ Darin will er Vorbild sein. Er hilft, die Reichenauer Feiertage zu organisieren, er gestaltet dafür die entsprechenden Seiten im Umgebot, er trägt den Baldachin bei der Prozession. „Vielleicht merken die Menschen jetzt mit Corona, dass diese Tage fehlen“, ist seine Hoffnung.
Aber Karl Wehrle hat auch kein Problem, sich zum Narren zu machen. Jedenfalls nicht an Fasnacht, denn das ist eine andere große Tradition der Reichenau. 2019 feierte der Narrenverein Grundel sein 125jähriges Jubiläum. Schon Wehrles Vater war ein Fasnachtsmensch, und Karl ist in seine Fußstapfen getreten. Seit vierzig Jahren ist er Elferrat, doch er genießt es auch, in andere Rollen zu schlüpfen. In einem seiner schönsten Auftritte mimte er 2012 die englische Queen. Und auch hier ist schon die nächste Generation am Start: Sohn Meinrad ist ebenfalls im Elferrat.
Ohnehin wäre Karl Wehrle gern Schauspieler geworden. Doch wenn man für eine Familie zu sorgen hat, kann man sich keinen derart brotlosen Beruf leisten. Umso aktiver war er als Amateur. So hat er sich an der Gründung von zwei Theatern beteiligt: Der Theatergruppe Reichenau, einem reinen Amateurtheater, in den 80er Jahren und dem professionellen „Theater auf der Insel“, wo er immerhin 5 Jahre lang kleinere Rollen gespielt hat. Doch das hat neben all den anderen Aktivitäten viel Energie gekostet. „2004 habe ich meine vielversprechende Schauspielkarriere beendet“, sagt er mit ironischem Lächeln.
„Ich liebe die Reichenau!“ Das ist vielleicht die wichtigste Aussage im Gespräch mit Karl Wehrle. Doch Liebe kann auch schmerzhaft sein. Karl Wehrle hatte einen Lebenstraum, schon seit seiner Schulzeit: Er wollte Bürgermeister der Reichenau werden. Sogar in der Abizeitung haben seine Mitschüler ihm das Amt zugeschrieben. Dafür hat er Verwaltungswissenschaften studiert, doch als er sich 1994 tatsächlich um den Bürgermeisterposten bewarb, verlor er die Stichwahl gegen den von außen kommenden Volker Steffens. „Das tut bis heute manchmal weh“, sagt er. Damals hat er sich ernsthaft überlegt, die geliebte Insel zu verlassen. Er hätte sich anderswo um ein Bürgermeisteramt bewerben können. „Aber ich wollte nicht irgendein Bürgermeister sein, ich wollte Bürgermeister der Reichenau sein.“
Er entschied sich, zu bleiben und das Beste daraus zu machen. Schon während des Studiums hatte ihm der damalige Bürgermeister Reisbeck in den 80er Jahren die Stelle als hauptamtlicher Geschäftsführer des Verkehrsvereins angeboten.
Seit damals ist Karl Wehrle in dieser Funktion tätig. Vieles hat sich auf seine Initiative hin verändert. 1982 wurde das Museum eröffnet und er wurde Vorsitzender des Museumsvereins, ein Amt, das er ebenfalls bis heute inne hat.
Mit dem Verkehrsbüro zog er mehrfach um, zunächst ins Museum, dann ins heutige Museumscafé, schließlich in die ehemaligen Räume der Sparkasse, wo es sich – nun als Touristinformation bezeichnet – heute noch befindet.
Seit 2000 ist die Reichenau Weltkulturerbe, und auch dafür wurden neue Gebäude und Räumlichkeiten geschaffen. Karl Wehrle ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Welterbe Klosterinsel Reichenau.
Das Gemeindearchiv, das zunächst in Kisten auf dem Dachboden des Rathauses lag, wurde von Karl Wehrle geordnet und im ehemaligen Tresorraum der Bank eingelagert, wo es wohl gehütet für Benutzer bereitsteht. Es gilt als eines der bestorganisierten Gemeindearchive im Kreis Konstanz.
Karl Wehrle repräsentiert die Reichenau oft auch nach außen, er ist der dienstälteste Touristiker am Bodensee. Die Initiative „Tourismus Untersee“ ist auch sein Kind, beim Zusammenschluss REGIO Konstanz-Bodensee-Hegau e.V. bringt er seine Erfahrungen ein. Er ist der Vertreter der Reichenau im Verein Deutsche Welterbestätten und hat dafür gesorgt, dass die Insel dort eine wichtige Rolle spielt. Im Jubiläumsjahr 2024 soll die Jahrestagung des Vereins auf der Reichenau stattfinden. Danach will er in Pension gehen, sich um die Reben und die Modelleisenbahn und seine Enkel kümmern. Oder auch etwas ganz Anderes machen. Alles ist offen.
Doch noch machen ihm seine vielfältigen Aktivitäten Spaß. „Sie weiten den Horizont, auch wenn ich nie von der Reichenau fortgekommen bin.“
Dafür zieht er auf der Insel einige Strippen, auch wenn er nicht Bürgermeister geworden ist!