Der gar nicht „einsame Forscher“ – Gert Zang

„…begann ich einsam sitzend zu forschen“, schrieb Hermann der Lahme (1013 bis 1054) im Brief an einen Freund (übersetzt von Arno Borst in einem Essay zu Hermannus Contractus[1]). Dass Forschen ein einsames Geschäft ist, hatte schon der Reichenauer Mönch erkannt.

Hermann der Lahme
Ofenkachel in der Schatzkammer des Münsters
Foto: Theo Keller

Wer am Vormittag in den Seminarraum der Touristinformation Reichenau kommt, der trifft auch hier auf einen „einsamen Forscher“: Gert Zang. „Ich wollte mein Leben lang immer nur forschen!“ sagt er und befindet sich damit auf der Reichenau in guter Tradition.

Beim Benediktinermönch Hermann ging es um Zeitrechnung und Astronomie, Gerd Zang forscht zur Regionalgeschichte. Doch das Forschen war ihm nicht in die Wiege gelegt. Im Zweiten Weltkrieg geboren, der Vater gefallen, in Coburg an der Grenze zur DDR aufgewachsen, wollte der Franke ursprünglich Jura und Kriminologie studieren. Doch dann hat er in Vorbereitung auf das Studium viele Gerichtssäle durchkämmt und erfahren müssen, dass hier überall noch alte Nazi-Richter in Amt und Würden waren. Der Ton war entsprechend, und er verlor die Lust auf diese Art von Arbeit.

Also hat er Soziologie und Geschichte studiert, zunächst in München, dann bei Ralf Dahrendorf in Tübingen. Statt sich der Juristerei zu widmen, erforschte er nun die regionale Verteilung der Jugendkriminalität in Baden-Württemberg. In Tübingen begann die Studentenbewegung 1966 mit dem ersten Vortragszyklus an einer deutschen Hochschule über die Rolle der Universität und der Professoren im Nationalsozialismus. Dies hat in der Geschichtswissenschaft tiefgreifende inhaltliche und methodische Veränderungen ausgelöst, begleitet von heftigsten Auseinandersetzungen, in die Gert Zang mitten hinein geriet.

Demonstration gegen die Notstandsgesetze 1968
Gert Zang ganz rechts im weißen Hemd, noch ohne Bart. Seine Frau Ingrid war damals schon an seiner Seite, wird allerdings von dem Mann mit Brille verdeckt.
Foto: Archiv Gert Zang

Politische Diskussion vor der Universität München 1968
Gert Zang ganz links in Hemd und Pullover
Foto: Archiv Gert Zang

„Geschichte von unten“ lautete das Gegenprogramm zur vorherrschenden Sichtweise, bei der die großen Mächte und Personen im Mittelpunkt standen, verbunden mit einer Konzentration auf die politischen und wirtschaftlichen Zentren des Landes. Geschichte war zu verstehen – so hieß es damals – wenn man die Ideen, Winkelzüge und Taten der Eliten erschloss. Nun rückten jedoch ganz neue Forschungsfelder in den Blick: z.B. Sozialgeschichte,  Alltagsgeschichte und „mündliche Geschichte“, verbunden mit einer biographischen Geschichtsschreibung „kleiner Leute“,  und – noch zaghaft  – Frauengeschichte.

Die neue Perspektive sollte nicht die bisherige Sicht durch weitere Facetten ergänzen, sondern alle Momente im Sinne eines „Alles hängt mit allem zusammen“ verbinden. Das schien am ehesten im regionalen Rahmen erreichbar zu sein. Deshalb war die Konzentration auf die sogenannte neue Regionalgeschichte eine logische Folge.

Veröffentlichung des Arbeitskreises Regionalgeschichte
Konstanz 1985

Es war ein Umbruch, der sich heute in den meisten historischen Darstellungen, Sachbüchern, Fernsehdokumentationen, Rundfunkbeiträgen und historischen Romanen niedergeschlagen hat. Vor allem in diesem Sinne sieht sich Gert Zang als „Achtundsechziger“: „Dieser Umbruch war viel wirkungsmächtiger und nachhaltiger als manche hoch gehandelte Erscheinung der Studentenbewegung.“

1970 kam Gert Zang als Doktorand der Geschichte nach Konstanz, wo er mit der Matrikelnummer 507 einer der ersten Eingeschriebenen an der neuen Reformuniversität war. 1972 hat er seine Promotion abgeschlossen. Anschließend war er 13 Jahre fest an der Uni angestellt, hat Vorlesungen gehalten und– natürlich – geforscht. Sein Thema: Wie entsteht Ungleichheit, am Beispiel der Entwicklung in Konstanz im 19. Jahrhundert. Das war auch an der neuen Uni nicht unumstritten, er musste immer wieder um Forschungsgelder kämpfen. Sogar in der Stadt Konstanz löste das Projekt eine politische Kontroverse aus. Immerhin gelang es der Forschergruppe mit Unterstützung von Professor Broszat, 1978 ein Buch mit den Ergebnissen ihrer Arbeit herauszugeben. „Provinzialisierung einer Region“ lautet der Titel.

Die Buchvorstellung fand in der Buchhandlung Neser statt, die Laudatio hielt Arno Borst, bei dem Gert Zang auch mehrere Vorlesungen besucht hatte.

Hier lauscht Gert Zang (rechts) der Laudatio von Arno Borst
Zweiter von links: Peter Neser. Vierter von links: Jürgen Leipold. In der Mitte sitzend: Ingrid Zang.
Foto: Archiv Gert Zang

Hier lauscht Arno Borst (rechts) der Buchpräsentation von Gert Zang
Zweiter von rechts: Verlagsleiter Axel Rütters. Dritter von rechts: Politikprofessor Thomas Ellwein. Vierter von rechts: Ekkehard Faude (Libelle-Verlag)
Foto: Gert Zang

Ein Verein für Regionalgeschichte wurde gegründet, und nachdem das Projekt an der Uni ausgelaufen war, kamen Fachaufträge von vielen umliegenden Gemeinden.

Veröffentlichung zum Nationalsozialismus in Singen 1994

Ein Auftrag kam auch von der Gemeinde Reichenau. Der Gemeinderat hatte eine Befragung älterer Reichenauerinnen und Reichenauer in Auftrag gegeben. In zwei Lesungen wurden die Ergebnisse im dicht besetzten Saal des Museums vorgetragen und in einem Heft auszugsweise veröffentlicht:

„Erinnerungen an die Kindheit und Jugend auf der Reichenau von der Kaiserzeit zur Weimarer Republik“ (1985)

Die Reichenau war Gert Zang schon damals nicht unbekannt, er wohnte bereits auf der Insel, denn seine Frau Ingrid arbeitete hier als Lehrerin. Anfangs hatte er keinen Führerschein und fuhr lange Zeit mit dem Bus nach Konstanz; die Insel war für ihn zunächst noch ein reiner Wohnort.

Gert Zangs Haus mit dem idyllischen Garten

Das änderte sich, als unter Bürgermeister Reisbeck 1979 die Idee aufkam, ein Heimatmuseum einzurichten, und der „Förderkreis Heimatmuseum“ gegründet wurde. Der Bürgermeister wollte mit dem neuen Museum einen Kontrapunkt zur Klostergeschichte setzen. Es sollte sich vor allem der Bürgergeschichte zuwenden. Zwangsläufig konzentrierte man sich deshalb auf die jüngere Geschichte der Reichenau. Gert Zang wurde zum ehrenamtlichen Geschäftsführer gewählt – genau das Richtige für ihn. Der Aufbau des Museums lief durch seine Hände. 1982 wurde es eröffnet. 

Bei der Eröffnung des Museums Reichenau
Gert Zang mit Bart in der Mitte. Zweiter links von ihm: Bürgermeister Eduard Reisbeck. Rechts von ihm: Prof. Lothar Burchardt.
Foto: Archiv Gert Zang

Als die Reichenau im Jahr 2000 zum Weltkulturerbe ernannt und das Museum um einen Neubau erweitert wurde, hat Gert Zang sich auch intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt. Doch inzwischen ist er pensioniert und darf sich ganz seinem Lieblingsthema widmen: der Regionalgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, das komplette Archiv der Gemeinde Reichenau aufzuarbeiten, um am Ende die von Bürgermeister Reisbeck seinerzeit so sehnlich gewünschte Bürgergeschichte der Reichenau zu schreiben. Jedes Stück des Archivs, das im Keller der Tourist-Information lagert, wandert durch seine Hände; er liest es und macht Inhaltsangaben dazu, sogenannte Regesten. Jeden Morgen findet man ihn – einsam forschend – im Seminar- und Medienraum der Tourist-Information, umgeben von alten Akten, denen er hochinteressante und manchmal auch durchaus vergnügliche Dinge entnimmt. So fand der badische Staat, dem Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Säkularisierung alles Kirchengut der Insel in die Hände gefallen war, dass für die 1500 Einwohner eine einzige Gemeindekirche, nämlich St. Johann, genug sei. Man plante, den Münsterturm abzureißen und das Münster selber als Raum für die Textilproduktion zu verkaufen. Außerdem wollte man die ganzen Reliquienschreine verscherbeln. Doch da wurden die Reichenauer zu „Protestanten“: Sie wehrten sich und behielten Turm und Schreine.

Eine der vielen handgeschriebenen Seiten von Gert Zangs Regesten

Doch Gert Zang war nicht der zurückgezogen lebende „Mönch der Wissenschaft“, er war auch über viele Jahre in der Gemeinde und für die Gemeinde aktiv. So hat er Geschichte nicht nur erforscht, sondern auch gespielt. 2013 verkörperte er im Freilichttheater über das Leben Hermanns des Lahmen dessen Vater, den Grafen Wolfrad von Altshausen.

Szene aus der Aufführung „Hermann der Lahme – Großes wächst in der Stille“ von 2013
Foto: Archiv Gert Zang

Vor allem aber hat er sich auch lange Zeit kommunalpolitisch engagiert. Noch während der Ära von Willi Brandt war er in München in die SPD eingetreten; seine Politkarriere begann als Unterkassier, erzählt er schmunzelnd. Er war dann Mitglied der SPD-Ortsgruppe Reichenau und später lange Jahre deren Vorsitzender. Auf der Reichenau ließ er sich in den Gemeinderat wählen, wo er von 1987 bis 2014, also 27 Jahre, die Geschicke der Insel mitbestimmte.

Gert Zang (links) bei der Stimmauszählung nach der Bürgermeisterwahl 1993 mit anderen Gemeinderäten
Über das Tischende gebeugt Bürgermeister Reisbeck
Foto: Archiv Gert Zang

Inzwischen geht Gert Zang nicht mehr zu den Sitzungen, auch nicht als Zuschauer. „Es wäre zu schwierig, hinten zu sitzen und den Mund zu halten.“

Dabei hat er es immer als sehr angenehm empfunden, manche langatmige Sitzung wenigstens in einem schönen Raum verbringen zu dürfen.

Wenn der Blick während der Gemeinderatssitzung nach oben wandert…

Unter den vielen Schönheiten der Reichenau spielen für ihn die Gemälde der drei wichtigsten Maler Heinrich Lotter, Bernhard Schneider-Blumberg und Oswald Poetzelberger eine große Rolle. An den Publikationen über ihre Werke war er einfühlsam beteiligt. Dabei haben es ihm die philosophisch verrätselten und bedeutungsgeladenen Werke von Oswald Poetzelberger besonders angetan. Zu einigen hat er Interpretationen verfasst.

Oswald Poetzelberger: Gartenfest (1927)
Text von Gert Zang zu diesem Bild

Welches seine Lieblingsorte auf der Reichenau sind, möchte ich zum Schluss noch wissen. Zum einen natürlich das Museum, das ja mit sein Kind ist.

Das Reichenauer Museum mit dem Neubau

Zum anderen aber der wunderschöne Schlosspark von Königsegg, nicht weit von seinem Haus, für dessen Erhalt er sich vehement einsetzt.

Hier am Baumhaus im Park trifft er sich manchmal mit seinen Enkeln zum Spielen.

Was bedeutet der Park für ihn?

Wenn man also jemanden einsam seine Runden im Park von Königsegg drehen sieht, dann weiß man: Es ist der gar nicht einsame Forscher Gert Zang.


[1] Arno Borst: Ein Forschungsbericht Hermanns des Lahmen. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40/1984. S. 379 – 477. Hier: S. 415.