Die Ruhe nach dem Sturm – Leopardi und Corona

Normalerweise kennen wir die Redewendung „Ruhe vor dem Sturm“. Leopardi nennt sein Gedicht „La quiete dopo la tempesta“, „Die Ruhe nach dem Sturm“. Der italienische Dichter und Philosoph war sein Leben lang auf der Suche nach dem Glück, und darum geht es auch hier, so wie in den anderen Gedichten, über die ich geschrieben habe („Il sabato del villaggio“ und „L’Infinito“). Die letzte Strophe von „La quiete dopo la tempesta“ ist ausgesprochen pessimistisch, aber davor zeigt uns der Dichter, woraus wahres Glück entsteht. Zentraler Satz ist „Piacer figlio d’affanno“.

La quiete dopo la tempesta

Passata è la tempesta:
Odo augelli far festa, e la gallina,
Tornata in su la via,
Che ripete il suo verso. Ecco il sereno
Rompe là da ponente, alla montagna;
Sgombrasi la campagna,
E chiaro nella valle il fiume appare.
Ogni cor si rallegra, in ogni lato
Risorge il romorio
Torna il lavoro usato.
L’artigiano a mirar l’umido cielo,
Con l’opra in man, cantando,
Fassi in su l’uscio; a prova
Vien fuor la femminetta a còr dell’acqua
Della novella piova; E l’erbaiuol rinnova Di sentiero in sentiero Il grido giornaliero.
Ecco il Sol che ritorna, ecco sorride
Per li poggi e le ville. Apre i balconi,
Apre terrazzi e logge la famiglia:
E, dalla via corrente, odi lontano
Tintinnio di sonagli; il carro stride
Del passegger che il suo cammin ripiglia.

Si rallegra ogni core.
Sì dolce, sì gradita
Quand’è, com’or, la vita?
Quando con tanto amore
L’uomo a’ suoi studi intende?
O torna all’opre? o cosa nova imprende?
Quando de’ mali suoi men si ricorda?

Piacer figlio d’affanno;
Gioia vana, ch’è frutto
Del passato timore, onde si scosse
E paventò la morte
Chi la vita abborria;
Onde in lungo tormento,
Fredde, tacite, smorte,
Sudàr le genti e palpitàr, vedendo
Mossi alle nostre offese
Folgori, nembi e vento.

O natura cortese,
Son questi i doni tuoi,
Questi i diletti sono
Che tu porgi ai mortali. Uscir di pena
E’ diletto fra noi.
Pene tu spargi a larga mano; il duolo
Spontaneo sorge: e di piacer, quel tanto
Che per mostro e miracolo talvolta
Nasce d’affanno, è gran guadagno. Umana
Prole cara agli eterni! assai felice
Se respirar ti lice
D’alcun dolor: beata
Se te d’ogni dolor morte risana.

Die Ruhe nach dem Sturm
 
Vorüber ist der Sturm:
ich hör die Vögel jubiliern, das Huhn, das wieder auf der Straße läuft, und gackert wie zuvor. Der blaue Himmel bricht sich Bahn im Westen dort, in den Bergen; das Land wird lichter, und hell leuchtet der Fluss im Tal.
Jedes Herz ist freudenvoll, an allen Ecken
fängt’s wieder an zu lärmen, kehrt das gewohnte Tagewerk zurück. Der Handwerker geht zur Tür, das Werkstück in der Hand, und singt und schaut zum feuchten Himmel auf. Das Mädchen kommt heraus, und holt sich Wasser vom letzten Regenguss;
der Gemüsehändler beginnt erneut
auf allen Wegen mit seinem Alltagsruf.
Da ist die Sonne wieder, sie lächelt
auf Hügel und auf Dörfer. Balkone,
Fenster und Terrassen öffnet das Gesinde: und von der großen Straße hörst du in der Ferne den Klang von Glöckchen; der Karren quietscht, mit dem der Reisende nun weiterzieht.

Freudenvoll ist jedes Herz.
So süß und so willkommen,
wann ist das Leben so wie jetzt?
Wann begibt sich der Mensch
mit so viel Liebe an seine Studien?
Und kehrt zurück zur Arbeit? Oder fängt mit Neuem an? / Wann denkt er weniger an sein Leid?

Oh Glück, du Kind der Sorge;
du eitle Freude, die Frucht ist
der vergangnen Angst, die auch denjenigen mit Todesangst erfüllte, der sonst das Leben hasst; die in großer Qual
die Menschen kalt und stumm und bleich
erzittern und schwitzen ließ zugleich,
als sie sahen, wie zum Angriff auf uns entsandt Blitze, Wind und Wolken.
 
Oh liebenswürdige Natur,
dies sind deine Gaben, dies die Freuden,
die du den Sterblichen bereitest. Der Pein entkommen ist Glück für uns.
Sorgen verteilst du großzügig; der Schmerz erhebt sich ganz von selbst: und das bisschen Glück, das – oh Wunder! – manchmal aus der Sorge entsteht, ist ein großer Gewinn! Oh Menschenkinder, den Göttern ach so lieb! Glücklich seid ihr schon, wenn euch der Schmerz nur atmen lässt: Selig seid ihr erst, wenn von jedem Schmerz euch der Tod befreit.


Wir befinden uns irgendwo in einem Dorf oder Städtchen in den Bergen, vielleicht Leopardis Heimatstadt Recanati in den Hügeln der Marken?

Recanati
(Foto von F. Giovanelli)

Ein Gewitter hat das Dorf heimgesucht, doch jetzt ist es weitergezogen und im Westen bricht die Sonne durch die Wolken. Wir blicken von oben auf ein weites Tal, in dem die Nebel sich aufgelöst haben und der Fluss leuchtet. Solche Bilder kennen wir auch vom Bodensee.

Nach dem Sturm bricht die Sonne durch und der See beginnt zu leuchten.

Nun nimmt das gewohnte Leben wieder seinen Gang. Aber seltsam, Menschen und Tiere scheinen plötzlich in Feststimmung zu sein: Jedes Herz ist voll Freude. Die Vögel zwitschern, das Huhn gackert fröhlich, der Handwerker singt bei der Arbeit.

Die Vögel zwitschern nach dem Sturm

Ein Mädchen kommt aus dem Haus, um Regenwasser zu holen, vielleicht um sich die Haare zu waschen? (Noch meine Mutter wusste, dass die Haare davon besonders weich werden!) Der Gemüsehändler ruft seine Kunden wieder wie jeden Tag, und der Reisende zieht weiter; sogar das Quietschen seines Karrens klingt wie ein Ausdruck von Freude. Was ist geschehen?

Piacer figlio d’affanno! Das Glück ist ein Kind der Sorge. Dabei ist der italienische Begriff „affanno“ gar nicht so einfach zu übersetzen. Er kann sehr Vieles bedeuten: Sorge, Kummer, Angst, Mühsal… Das Glück soll ein Kind sein von alldem?

Der Dichter beschreibt in der nächsten Strophe den Sturm und die Angst, die er bei den Menschen auslöste, Todesangst sogar bei jenen, die sonst gar nicht so sehr am Leben hängen. Blitze, Wind und Wolken ließen die Menschen schwitzen vor Grauen. Heute sind wir besser geschützt gegen die Unbilden der Natur, doch auch mich packt manchmal die Furcht, wenn die Weststürme um unser Haus heulen und die Wellen gegen das Ufer schlagen, dass man das Gefühl hat, am Meer zu sein (siehe auch Beitrag „Sturm!“).

Der Sturm treibt die Regenschleier über die Bucht

Am anderen Seeufer sieht man auf der Höri das Sturmwarnlicht aufblinken.

Dass Stürme gefährlich sind, wissen wir heute hauptsächlich aus den Nachrichten, denn aufgrund des Klimawandels nehmen sie vor allem in der Karibik immer mehr zu. Doch es ist erst gut 50 Jahre her, dass auch die Reichenau Tote durch einen Sturm zu beklagen hatte: Der Fischer Hugo Stader und sein Sohn Helmut kamen 1966 vom Netzeeinholen nicht mehr zurück.

Sind die Menschen der Gefahr aber erst einmal entronnen, dann sind sie plötzlich voller Freude, geradezu euphorisch. Doch worüber freuen sie sich eigentlich? Leopardi betont, dass es das gewohnte Tagewerk ist, das sie so fröhlich stimmt: „il lavoro usato“, „il grido giornaliero“. Das Alltägliche, das Normale wird zum Fest. Das ist das eigentliche Glück: Unser ganz normaler Alltag! Es braucht nur erst den „affanno“, Kummer, Angst und Sorge, damit wir es wieder wahrnehmen.

Erst im Unglück begreifen wir Menschen den Normalzustand als Glück. Und das ist es, was der Sturm der Corona-Pandemie uns lehren kann, der momentan über die ganze Menschheit hinwegfegt. Irgendwann wird auch dieses Unglück vorüber sein, und dann werden wir unseren normalen Alltag hoffentlich lange als das zu schätzen wissen, was er ist: das wahre Glück!

Die Bucht an einem normalen Frühlingsmorgen

Die Informationen zu den ertrunkenen Fischern habe ich dem Buch von Herbert Koch „Hundertfünfzig Jahre Fischerei und Fischereigeschichte vom Untersee“ entnommen.

Und noch ein Buchtipp zum Thema allgemein: Maria Schorpp, Philologin der Uni Konstanz, hat 2013 ein witziges und tiefsinniges Buch geschrieben mit dem Titel: „Die Lust normal zu sein“ (ISBN 978-3-280-05464-2).