Matthias Graf ist Geschäftsstellenleiter der Sparkassenversicherung auf der Reichenau. Wenn er im grauen Zwirn hinter dem Schreibtisch sitzt und den Kunden die (Un-)Tiefen des Versicherungswesens näher bringt, dann würde man nicht vermuten, was alles hinter dem grauen Anzug steckt!
Zappel – der Spitzname, den man ihm im Ministrantenlager gegeben hat, könnte nicht treffender sein. „Zappelphilipp!“ hieß er dort, der „Zappel“ wurde ihm dann ganz offiziell vom Elferrat der Grundel verliehen. Matthias Graf ist einer, der kaum stillsitzen kann. Er pflegt so viele Aktivitäten, dass man das Gefühl hat, sein Tag muss mehr als 24 Stunden haben.
Mütterlicherseits stammt er aus einer alten Reichenauer Familie: der Familie Honsell. Sein Vater hat 1971 eingeheiratet, kam aus Iznang. Der Mutter gehörte eine Hälfte des Hauses zum Schiff. Das Gebäude hat eine tragische Geschichte: Der Ururgroßvater hatte sich erhängt, sein Sohn war erst 9 Jahre alt, und so musste 1880 ein Teil des Hauses verkauft werden. Die Familie von Matthias führte die Landwirtschaft fort, die andere Seite das Gasthaus Schiff. Nicht immer war das Verhältnis zwischen den Partien gut. Zuletzt wohnten zwei Schwestern in der Hälfte mit dem Restaurant, die auf Befehl ihres Stiefvaters nicht heiraten und nicht mit der Familie von Matthias sprechen durften. Als ihr Stiefvater 1984 starb, riefen die beiden noch in der Nacht bei Grafs an und stellten den Kontakt wieder her. Matthias zwar damals 12 Jahre alt. Er erinnert sich, dass er im darauffolgenden Jahr im Gasthaus Schiff auf dem Tisch stand und sang – in ein rotes Hemd gekleidet. Längst sind die Schwestern gestorben, die Haushälften wieder vereint. Das Gasthaus wurde renoviert und verpachtet.
Die Mutter von Matthias, Roswitha, bekam drei Kinder und führte zusammen mit der Großmutter die Landwirtschaft fort. Sie ist künstlerisch sehr begabt, spielt Theater, malt und singt bis heute. Sie hatte Gesangsunterricht bei der Opernsängerin Ruth Frenk und trat unter anderem viele Jahre als Teil des Gesangstrios „Nebelkrähen“ mit Juliane Epp und Ines Happle-Lung auf (siehe Beitrag „Musik und Politik – Ines Happle-Lung“).
Diese Fähigkeiten wollte sie an die Kinder weitergeben, vor allem an Matthias. Sie nahm ihn mit zu Veranstaltungen und bestand darauf, dass er mit 9 Jahren am Konzert des UHO, des Unterhaltungsorchesters Reichenau, das Lied „Meine Mami“ sänge. Der Gründer und damalige Leiter des UHO, Herbert Koch, war begeistert von der Idee, Matthias weniger. Er hatte keine Lust, nutzte dann aber die Situation schlau für sich aus. Er erpresste den Dirigenten: „Wenn ich singe, will ich einen Bausatz für meine Dampfmaschine!“ Es wurde sein erster Auftritt vor großem Publikum, dem noch viele weitere folgen sollten. Die Dampfmaschine hat er bekommen!
Aber die Mutter hatte noch andere Pläne: Sie wünschte sich, dass er Geige lernte, um im UHO zu spielen. Matthias wollte aber lieber Posaunist bei der Bürgermusik werden, dem Musikzug der Bürgerwehr, denn deren Uniformen gefielen ihm so gut. Oder vielleicht auch die hübschen Mädchen in Tracht wie hier seine Frau Carolin?
Die Mutter war einverstanden, aber nur unter der Bedingung, dass er an der Musikschule Konstanz sein Instrument richtig lernte. Das wiederum gefiel Matthias überhaupt nicht, eigentlich war er dafür viel zu faul, aber schließlich ließ er sich überreden – und hat es nicht bereut. Mehr als 12 Jahre ist er der Musikschule treu geblieben, hat dort nach eigener Aussage eine fantastische Ausbildung genossen und lange im Jugendblasorchester Konstanz unter der Leitung von Douglas Bostock gespielt. Sogar Alphorn hat er gelernt, und so kommt es, dass er seit 31 Jahren Posaune, Tenorhorn und Alphorn spielt, in der Bürgermusik und im UHO sowie in einer 6köpfigen Alphorngruppe mit dem schönen Namen Alptraum, die ihre Hörner mit Vorliebe auf der Reichenauer Hochwart erklingen lässt.
Doch manchmal spielt er auch ganz für sich allein.
Eigentlich sollte er sogar Musik studieren, aber da hat er sich dann doch erfolgreich geweigert, denn er wollte auf keinen Fall die Reichenau verlassen, wo er aufgewachsen und verwurzelt war. Doch welche Berufsmöglichkeiten boten sich hier? Matthias wurde Briefträger. Für ihn ein Traumjob! Er hatte Kontakt zu den Leuten, und das gefiel ihm. Er war gut in seinem Beruf und stieg zum Postbankberater auf. 8 Jahre arbeitete er bei der Post und wurde sogar verbeamtet.
Doch dann kam eines Tages Bernfried Koch an den Schalter. Die beiden kannten sich von der Bürgermusik. Koch gelang es, den widerspenstigen Matthias von seinem bequemen Job wegzulocken und für die Öffentliche Versicherungsanstalt, später Sparkassenversicherung, abzuwerben. Die Frau von Matthias, die bei der Sparkasse gelernt hatte, unterstützte ihn dabei. Anfangs war es hart, wieder von der Pike auf neu anzufangen. Doch Matthias lernte schnell. 2017 wurde er Geschäftsstellenleiter. Inzwischen hat er 8 Mitarbeiter*innen und ist sehr zufrieden.
„Man muss mich manchmal zu meinem Glück zwingen“, gibt er augenzwinkernd zu.
Doch Matthias Graf führt eine Art Doppelleben. Einerseits ist er der Mann von der Versicherung im grauen Anzug, andererseits der Zappel, der ehrenamtlich ein halbes Dutzend verschiedene Ämter hat und daneben noch aufwändige Hobbys pflegt.
2016 wurde er Mitglied im Gemeinderat für die CDU. Obwohl Matthias sich selbst eher zum grünen Flügel rechnet, gab es für ihn nur diese Partei. Aus Familientradition. Sein Vater war schon CDU-Mitglied, und die Großmutter sagte: „Wir haben immer christlich gewählt!“ Damit war die Sache klar.
Aber Matthias Graf nimmt das C wirklich ernst, er sieht sich als christlichen Menschen. Als Kind war es das Übliche: Am Sonntag ging er mit seiner Mutter zur Kirche, wurde Ministrant und war bei etlichen Ministrantenlagern dabei.
Doch als Jugendlicher hatte er wie viele andere „keinen Bock“ mehr darauf. Sein Protest ging manchmal so weit, dass er die Schlafzimmertür abschloss, wenn die Mutter ihn am Sonntagmorgen zum Ministrieren wecken wollte.
Dann widerfuhr ihm eine Art Erweckungserlebnis. In dem Jahr, als er beschlossen hatte, der Kirche den Rücken zu kehren – er war inzwischen 17 Jahre alt – ministrierte er ein letztes Mal am Gründonnerstag. „Auf dem Weg vom Ölberg zum Tabernakel hat mich etwas ergriffen. Es war wie eine Art Ruf.“ Er beendete zwar trotzdem seine Tätigkeit als Ministrant, ging aber von da an jeden Sonntag freiwillig in die Kirche. Bis heute ist er dabeigeblieben, auch wenn er bei der Predigt nicht immer zuhört, wie er lächelnd anmerkt. „Der Glaube hat mir wahnsinnig viel Halt und Hoffnung gegeben im Leben!“
Dazu passt, dass Matthias Graf angefangen hat, Pilgertouren zu organisieren. Die Benediktinerpatres, die von der Erzabtei Beuron auf die Reichenau geschickt worden waren, um hier eine Cella zu gründen, haben ihn dazu inspiriert. So führte die erste Tour, die Matthias organisiert hat, nach Beuron. 25 Personen gingen mit ihm.
Dann beschloss er, mit der Gruppe auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern. In Etappen natürlich. So machte sich vor Corona alle zwei Jahre in der Urlaubszeit eine Pilgerschar auf den Weg zum Heiligen Jakobus. Nach 4 Etappen sind die Reichenauer inzwischen in Genf angekommen. Unterwegs gibt es jeweils Impulsreferate, Besichtigungen und Gottesdienste. Matthias hofft, dass die Touren bald wieder aufgenommen werden können, und sie irgendwann Santiago erreichen.
Die Gegenseite der christlichen Medaille ist die Fasnacht. Matthias war von Kindheit an immer an der Fasnacht unterwegs. Sein Traum war es, in den Elferrat der Grundel aufgenommen zu werden (siehe Beitrag „G wie Grundel“ unter Reichenauer ABC). Mit 21 Jahren hat er es geschafft. Inzwischen ist er seit 27 Jahren bei den Elfern.
Zeitweise war er auch als Kassier tätig (siehe „K wie Kassier“ unter Reichenauer ABC), mit seinen Freunden vom Stammtisch hat er am bunten Abend mitgewirkt und ist jahrelang an der Fasnacht mit einer Gruppe des Elferrates im Rathaus aufgetreten. Er war vor allem auf die Gesangsrollen spezialisiert. Der Clou ist jedoch die Combo „Drei Elftel“, eine Band von drei Elferräten, die an Fasnacht mit Gesang, Gitarre, Kachong, Bass und Posaune überall auf der Insel auftritt.
Zehn Jahre lang war Matthias auch aktiv beim Roten Kreuz. „Wir machten eine erfolgreiche Jugendarbeit!“ Als dann allerdings seine Zwillinge zur Welt kamen und er gleichzeitig Vorstand der Bürgermusik wurde, konnte er dem hohen Anspruch, den er selber ans Ehrenamt hat, nicht mehr gerecht werden und beendete seine aktive Zeit. Passiv ist er natürlich immer noch Mitglied, wie in vielen anderen Vereinen auf der Insel auch.
Aktiv ist er dagegen beim Cego-Stammtisch IV „Schiff“ am Dienstag im Gasthaus Schiff. Schon seit 1988 treffen sich dort die – inzwischen nicht mehr ganz so – jungen Männer zum typisch badischen Kartenspiel Cego. Der Stammtisch hat sogar ein eigenes Lied. Matthias hat den Text geschrieben, sein Schwager Martin Glönkler die Melodie.
Außerdem liebt Matthias Kräuter. Daraus macht er Tees und Schnaps. Die Etiketten für die Schnapsflaschen gestaltet seine Frau, die Künstlerin. Die Familie hat auch noch Reben, aber das wird dann doch etwas zu viel für ihn, den Weinbau überlässt er der Schwester und der Schwägerin, hilft aber, wenn es die Zeit zulässt, mit seiner Familie mit.
Und damit ihm nicht langweilig wird, hält sich Matthias Graf noch Hühner.
Seine Eltern hatten im Haus zum Schiff eine Landwirtschaft im Nebenerwerb, und dazu gehörte auch immer das Federvieh hinterm Haus. Seit sein Vater 2006 gestorben ist, versorgt Matthias die Hühner. Etwa zwanzig Stück hat er, verschiedene Rassen. Sie heißen alle Hansi, der Hahn heißt Heinz. „Die Hühner sind ganz anders, wenn ein Hahn dabei ist“, erklärt Hühnerexperte Matthias, „dann herrschen Zucht und Ordnung!“ Die Federtiere sind gute Biomüllverwerter und „wahnsinnige Futterneider“. Füttern, Wasser geben, Ausmisten, Parasiten bekämpfen – das Hühnergeschäft ist durchaus arbeitsintensiv. Hilfe bekommt Matthias von seinen Söhnen Johannes und Jakob. Der Lohn der Mühe sind Hühnerfleisch und Eier, pro Tag etwa 15 Stück, weiße, braune und sogar grüne! „Die muss man am Karfreitag gar nicht färben.“
Aber Matthias verwertet seine Hühner auch in der Küche. Er schlachtet selber, das hat ihm der Großvater beigebracht. Und er kocht sehr gern, das hat er ebenfalls schon als Kind gelernt. Wenn die Eltern und Großeltern auf dem Feld waren, dann musste Matthias das Mittagessen zubereiten. Seine Lieblingshühner sind die die Brahma-Hühner, die „Wahnsinnsfleischhühner“ sind.
Und wieder stellt sich die Frage: Wie schafft er das alles? Matthias gibt zu, dass er schon einmal ein Anti-Stress-Seminar mitgemacht hat, in dem er aber vor allem gelernt hat, dass man die Dinge, die man machen möchte, auch machen sollte, weil der Verzicht erst recht zu Stress führt.
Es ginge sicher nicht ohne seine Frau Carolin, die ihn bei seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten unterstützt und deren Rat ihm bei allen Entscheidungen wichtig ist. 1998 haben die beiden standesamtlich geheiratet, da der erste Sohn Johannes sich ankündigte. Im Jahr darauf kam dann das große Fest, die kirchliche Trauung im Münster. Bei tollem Wetter feierte nach altem Brauch die halbe Reichenau die Brautmesse und anschließend im Strandhotel Löchnerhaus das Fest mit. Nach Johannes wurde das Paar noch mit 3 weiteren Kindern, Magdalena, Jakob und Anton „beschenkt“, wie Matthias betont.
Nicht umsonst hat er mit seiner Frau einen „Schatztag“ eingeführt, der ihm heilig ist!
Für diesen Beitrag hat Matthias zusammen mit Carolin und den Freunden Martina und Joachim „Jockel“ Frick bei den Hühnern ein Lied für mich gesungen.
Ein wenig kann man diesen Wunsch nachvollziehen!