Heute ist Muttertag. Am vergangenen Freitag, dem 8. Mai, waren es 75 Jahre, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und die Welt vom Nationalsozialismus befreit wurde. Etwa 60 Millionen Menschen hatten den Tod gefunden, waren als Soldaten gefallen, durch Bomben zerfetzt oder im KZ ermordet worden. 60 Millionen Söhne und Töchter, deren Mütter um sie trauerten. Zurecht wurde als Symbol für dieses Grauen am zentralen Erinnerungsort ‚Neue Wache‘ in Berlin die Kopie einer Skulptur von Käthe Kollwitz (1867-1945) aufgestellt: eine Mutter, die um ihren toten Sohn trauert, eine Pietà. Die Künstlerin hatte ihren eigenen Sohn Peter im Ersten Weltkrieg verloren und 1937/38 diese Figur zu seinem Andenken geschaffen.
„Pietà“ ist Italienisch und bedeutet Mitleid, Gnade, Erbarmen. Doch auch Darstellungen der Muttergottes mit ihrem toten Sohn im Schoß werden in der Kunstgeschichte so genannt. Auf Deutsch heißen sie „Vesperbilder“, weil man glaubte, dass Jesus zur Zeit der Vesper vom Kreuz abgenommen und in den Schoß der Mutter gelegt worden sei. Die um ihren Sohn trauernde Maria wurde zum Symbol aller Mütter, die ein Kind zu beweinen haben.
Die berühmteste Pietà ist sicherlich diejenige von Michelangelo in der Peterskirche in Rom.
Aber auch in den Kirchen der Reichenau gibt es solche Vesperbilder, in jeder Kirche eines.
Münster Sankt Maria und Markus
Das älteste ist die Skulptur im linken Seitenschiff des Münsters zu Mittelzell. Es wurde um 1350 geschaffen. Das 14. Jahrhundert war die Zeit der großen Pest, aber auch der Mystiker und Mystikerinnen, die sich in das Leiden Jesu am Kreuz versenkten und mit seiner Mutter mitlitten. Es entstand eine neue Art von Frömmigkeit, die nach neuen Andachtsbildern verlangte. Und was eignet sich besser zum Mitleiden als das Leid einer Mutter, die ihren gequälten, toten Sohn im Schoß hat?
Die Skulptur ist aus einem Steinblock gehauen und bemalt worden. Jesus liegt etwas prekär auf Marias Schoß. Man sieht nicht genau, wie die Position ihrer Knie ist. Er sitzt relativ aufrecht und man befürchtet, dass er jeden Augenblick herunterrutschen könnte. Der geschundene Jesus ist mit grausamem Realismus dargestellt.
Die Haut der Füße ist durch die Nagelwunde hochgeschoben und aus der Seitenwunde quillt das Fleisch hervor.
Auch die Wunden der Hände sind überdeutlich zu sehen.
Maria stützt dem Sohn mit einer Hand den Kopf.
Mit der anderen Hand scheint sie seinen Bart zu kraulen.
Im Zusammenspiel der beiden Hände sieht man jedoch, dass sie uns sein Leidensgesicht präsentiert.
Ihr eigener Gesichtsausdruck zeigt verhaltene Trauer. Sie schaut nicht Jesus an, sondern uns Gläubige, als ob sie uns zum Mitleiden einladen wollte. Seht her! Erbarmen!
Sankt Georg
Die Pietà in Sankt Georg ist über 100 Jahre später entstanden, vermutlich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Sie steht in der Apsis des linken Seitenschiffes.
Wenn man um die Pietà herumgeht, sieht man, dass sie als „einansichtige“ Figurengruppe konzipiert wurde, nämlich, um direkt von vorn gesehen zu werden. Der Eichenstamm, aus dem sie geschlagen wurde, ist ausgehöhlt. Außerdem erkennt man am Rand die Grundierung aus Leim und Kreide, auf die der „Fassmaler“ die Fassung aufbrachte, wie man die Farbgestaltung bei Skulpturen nennt. Die heutige Fassung stammt aus den 1920er Jahren, vermutlich vom Überlinger Restaurator Victor Mezger.
Wie bei Madonnen üblich trägt Maria ein rotes Unterkleid (dem Kleid der römischen Matronen nachempfunden) und einen blauen Mantel (die Farbe des Himmels). Auf diesem Vesperbild hat sie sich noch in das typische, weiße Kopftuch gehüllt, wie es Frauen im späten Mittelalter trugen. Sowohl ihr Kleid als auch der Mantel sind außerordentlich prächtig gestaltet. „Wunderschön Prächtige …“
Marias Mantel trägt eine fein gearbeitete goldene Borte und goldene Applikationen wie die Brokatmäntel der Adligen. Jesus ruht schwer zwischen ihren Knieen, die aufgrund der goldenen Ornamente gut zu erkennen sind.
Auch sie stützt ihm mit der rechten Hand den Kopf.
Ihre Linke hält indes mit einer zärtlichen Geste seine im Schoß übereinandergeschlagenen Hände.
Die Spuren der Folterungen sind bei ihm nicht ganz so krude dargestellt wie bei der Pietà im Münster. Das von Mezger gemalte Blut sieht dafür sehr echt aus.
Das Gesicht Jesu ist nicht zum Betrachter gewandt, sondern nach oben gerichtet. Realistisches Detail: Dem Toten läuft die Spucke aus dem geöffneten Mund.
Die Muttergottes schaut weder ihren Sohn noch uns an. Ihre Trauer ist ganz nach innen gerichtet.
Sankt Peter und Paul
Bei der Pietà im rechten Seitenschiff von Sankt Peter und Paul sind wir in der Barockzeit angelangt. Nun kennen wir auch den Künstler: Der berühmte Bildhauer Christoph Daniel Schenck (1633 – 1691) hat sie um 1670 geschaffen, wobei die Gelehrten streiten, welchen Anteil der Künstler selbst hatte und welchen die Werkstatt. Die Figurengruppe ist aus Lindenholz geschnitzt. Allerdings wurde auch hier die Farbfassung bei Restaurierungsarbeiten erneuert, ebenso der Strahlenkranz und einige Details. Auf der Rückseite ist sie mit einem Brett verschlossen.
Das Besondere: Jesus liegt nicht im Schoß von Maria. Ihre beiden Knie zeigen nach rechts, Jesus kniet auf zwei Steinen und hängt mit dem Oberkörper über ihrem linken Knie. Der Körper Christi zeigt zwar die fünf Wunden, aber ansonsten keine Folterspuren.
Das Haupt des Toten ruht frei auf Marias Oberarm.
Diese Pietà ist auf extreme Einansichtigkeit angelegt. Wenn man sie von der Seite betrachtet, hat man das Gefühl, das kann nicht gut gehen, Jesus muss gleich vornüberfallen.
Weder hält noch stützt Maria ihren toten Sohn auf irgendeine Weise. Sie hat die Arme nach beiden Seiten ausgebreitet in einer Geste, die gleichzeitig anklagend und trauernd ist.
Ihre Trauer zeigt sich symbolisch im Taschentuch, das sie in der linken Hand hält.
Auch ihr Gesichtsausdruck mit den vom Weinen geröteten Augen und dem schluchzend geöffneten Mund ruft laut: Pietà! Erbarmen!
Doch sie appelliert nicht an uns Betrachter, sondern an den, der Krankheit, Krieg und Tod verhindern könnte. Ihr Blick richtet sich nach oben, zu Gott. Die Bitte um Erbarmen gilt ihm.
Übrigens hat Käthe Kollwitz darauf bestanden, dass ihre Pietà keinen religiösen Bezug habe…
Literatur:
Dörthe Jakobs, Sankt Georg auf der Reichenau-Oberzell, 1999, Tafelband S. 296. Christoph Daniel Schenck 1633 – 1691, Hg. Rosgartenmuseum Konstanz, 1996. Die Klosterinsel Reichenau und ihre drei Kirchen, Hg. Katholisches Münsterpfarramt Reichenau-Mittelzell, 2017.