Barock inszeniert Ewigkeit

Wer das Reichenauer Münster besucht, erwartet – wie in allen Prospekten beschrieben – eine romanische Kirche, allenfalls noch einen gotischen Chor. Um so erstaunter ist man, wenn man im Westwerk steht und durch das Mittelschiff nach vorne schaut: Hier eröffnet sich eine phantastische barocke Inszenierung.

Die schweren Sandsteinpfeiler und die romanischen Rundbögen, die das Hauptschiff von den Seitenschiffen trennen, führen das Auge zentralperspektivisch nach vorne, zur Vierung mit dem hohen Triumphbogen und weiter in die Apsis mit dem gotischen Netzgewölbe und den Spitzbogenfenstern. Zwischen Vierung und Hauptschiff befand sich in romanischer und gotischer Zeit ein hoher Lettner; die Zugangstüren sind rechts und links an der Vorchorwand noch sichtbar.

Kleiner kunsthistorischer Exkurs

Der Lettner diente der Lesung (daher der Name) und der Predigt, vor allem aber der Trennung von Klerus und Gläubigen. In wenigen Kirchen sind die Lettner heute noch erhalten, wie hier in Santa Maria di Vezzolano im Piemont.

Ältester italienischer Lettner in Santa Maria di Vezzolano, um 1189
(Foto Nicola Quirico, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons)

Dann kam der Barock, und damit änderte sich alles. Fast 20 Jahre lang rangen beim Konzil von Trient (1545 – 1563) die Würdenträger der katholischen Kirche um eine angemessene Reaktion auf die Reformation. Die daraus resultierende „Gegenreformation“ oder „katholische Reformation“ beinhaltete viele Maßnahmen, z.B. die Errichtung von Priesterseminaren oder die Abschaffung bezahlter Ablässe. Vor allem aber schuf sie eine ganz neue Art von Kunst: den Barock. Während den Menschen in den Konfessionskriegen der richtige Glaube mit Gewalt beigebracht werden sollte, ging die Kunst einen anderen Weg: Man wollte sie überzeugen.

Nun sollten die Kirchen zum Festsaal Gottes werden, mit einer Fülle von farbigen und goldenen Ornamenten. Die Gläubigen sollten das Gefühl haben, schon auf Erden am himmlischen Fest teilzuhaben, wenn sie in die Kirche gingen. Das schönste Beispiel am Bodensee: Die Wallfahrtskirche Birnau.

Wallfahrtskirche Birnau am Bodensee, 1749
(Foto: Andreas Praefcke, Public domain, via Wikimedia Commons)

Die Kirchen sollten hell sein, das himmlische Licht frei hereinströmen. In vielen älteren Kirchengebäuden wurden daher die Fenster vergrößert und die Wände weiß getüncht. Dies geschah auch auf der Reichenau. In der Niederzellerkirche St. Peter und Paul ist die barocke Umgestaltung noch weitgehend erhalten:

St. Peter und Paul
Das Licht fällt durch die großen Barockfenster des Seitenschiffs. Die vorher bemalten Wände wurden weiß übertüncht.

Vor allem aber eine Kunstrichtung wird im Barock besonders gepflegt: Das Theater. Die „Commedia dell’Arte“ entsteht, und in den Schulen der Jesuiten, des wichtigsten Ordens der Gegenreformation, wird das Theaterspiel fester Bestandteil des Lehrplans. So kam übrigens die Stadt Konstanz zu ihrem Stadttheater: Sie übernahm die Jesuitenschule mit dem eingebauten Theatersaal.

Das Stadttheater Konstanz, die ehemalige Jesuitenschule, 1607
(user:joergens.mi, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons)

Aber nicht nur in den Schulen wird im Barock Theater gespielt: Auch die Kirchen sollen zum Theater Gottes werden. Der Altar ist die Bühne, auf der sich während der Messe das heilige Geschehen abspielt, und die Gläubigen sollen nicht mehr in der Kirche umhergehen, wie es vorher der Fall war, sondern an festen Plätzen sitzen und die Inszenierung am Altar verfolgen. Zu diesem Zweck werden nun Kirchenbänke eingeführt. Die Lettner müssen natürlich weichen, damit die Gläubigen freien Blick auf den Altar haben, doch sie werden häufig durch kunstvolle, transparente Gitter ersetzt, wie hier in der Klosterkirche St. Ulrich in Kreuzlingen.

Ehemalige Klosterkirche St. Ulrich in Kreuzlingen, Chorgitter 1737
(Berger, CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/, via Wikimedia Commons)

In der Architektur werden Kurven, Ovale und Rotunden beliebt. Außerdem lieben Barockarchitekten die Zentralperspektive. So wird Rom im 17. Jahrhundert zu einer Barockstadt umgestaltet, mit langen Straßenzügen und Plätzen, die fast immer auf einen zentralen Fluchtpunkt in Form einer Kirchenfassade oder eines Obelisken zuführen. Manchmal gibt es auch beides, wie hier bei Santa Maria Maggiore.

Santa Maria Maggiore in Rom vom Esquilinplatz aus gesehen, Westfassade mit Obelisk, 1687
(Giorgio Galeotti, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons)

Das berühmteste Beispiel einer solchen Blickachsen-Inszenierung ist der Petersplatz in Rom mit der Via della Conciliazione.

Die Kolonnaden von Gianlorenzo Bernini am Petersplatz in Rom, 1657
(Diliff, CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/, via Wikimedia Commons)

Von Rom aus verbreitete sich der Barock über ganz Europa. Vor allem nach dem Ende des zerstörerischen Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) wurde der Wiederaufbau allenthalben zur Erneuerung der Kirchen und Klöster im neuen Stil genutzt. So auch auf der Reichenau. Der Konstanzer Bischof Jakob Fugger, in Personalunion Abt des Klosters Reichenau, ließ Anfang des 17. Jahrhunderts einen Klosterneubau auf der Südseite der Kirche anlegen und vermutlich erste barockisierende Veränderungen in der Kirche vornehmen.

Das im Barockstil umgebaute Kloster Reichenau
(Gemälde von 1738 im nördlichen Seitenschiff des Münsters)

Die Reichenauer Heiligblut-Reliquie

Während des Dreißigjährigen Krieges wurde dann das wichtigste Heiltum des Reichenauer Münsters aus Angst vor marodierenden Soldaten in das Benediktinerinnenkloster Günterstal bei Freiburg ausgelagert: die Heiligblut-Reliquie. Über 100 Jahre später kehrte sie zurück, am 26. Mai 1738. Und nun wurde sie barock in Szene gesetzt.

Die Reliquie besteht aus einem byzantinischen Abtskreuz, das vermutlich Anfang des X. Jahrhunderts entstanden ist. Darin eingeschlossen waren ein Seidentüchlein mit einem Blutstropfen Christi und ein Splitter vom Kreuz.

Das byzantinische Abtskreuz
(Foto Archiv Lukas Hafner)

Die Geschichte der Reliquie ist kompliziert und weitgehend legendär; ich will darauf nicht näher eingehen. Als „Herrenreliquie“, also direkt von Jesus stammend, stellt sie das bedeutendste Heiltum des Reichenauer Münsters dar. Bei ihrer Rückführung 1738 wurde extra ein neuer, prächtiger Schild mit Gold und Edelsteinen angefertigt, in den das Kreuz eingehängt wurde.

Reliquienschild von 1738 mit dem byzantinischen Kreuz in der Mitte. Der Kreuzessplitter befindet sich nun in dem kleinen Kreuz oben, das Tüchlein in dem Queroval unten.

Man ließ außerdem eine wertvolle Monstranz als würdigen Rahmen für die öffentlichen Auftritte der Reliquie bei Prozessionen und am Heiligblutfest (Montag nach Dreifaltigkeitssonntag) anfertigen.

Die Monstranz trägt unten die Inschrift: Wer Christi Bluet efrig ehrt, wirdt von Gottes Lamb gwis erhört.

1739 wurde dann ein Altaraufsatz in Blutrot geschaffen, der wohl ursprünglich auf einem Steinaltar stand. Hier ist die Monstranz untergebracht.

Der Altar selbst zeigt in der Mitte ein Abbild der Monstranz mit dem Kreuz, rechts und links je eine allegorische Figur.

Die Figur auf der linken Seite trägt einen Kelch, sie stellt die Allegorie des Glaubens dar. Rechts die Allegorie der Liebe mit dem brennenden Herz in der Hand.

Das Kreuz in der Mitte symbolisiert demnach die Hoffnung, die dritte der drei christlichen Tugenden.

Über dem Altaraufsatz erhebt sich der Gekreuzigte wie auf dem Berg Golgatha.

Um den Heiligblutaltar im Kirchenraum entsprechend in Szene zu setzen, wurde anstelle des Lettners ein Chorgitter angebracht, das auf geniale Weise die vorhandenen Strukturen aufnimmt. Mehrfach wiederholen sich die Rundbögen des romanischen Langhauses und der Vierung im schmiedeeisernen Gitter.

Dies wird noch deutlicher, wenn man Altar und Gitter von der Apsis aus Richtung Westen anschaut. Man hat den Eindruck, dass der Kunstschmied sogar das Helldunkel-Farbmuster der Bögen im Westwerk aufgenommen hat.

Besonders eindrücklich ist aber die perspektivische Darstellung des Gitters. Wie als Verlängerung der Fluchtlinien des Langhauses führen uns die Linien des Gitters illusionistisch immer weiter nach vorn, bis sie schließlich in einem Punkt zusammenlaufen: dem Kreuz des Heiligblut-Altars.

In der Mathematik lautet ein Axiom: Zwei parallele Geraden treffen sich im Unendlichen. Hier am Heiligblut-Altar treffen sich alle Geraden im Kreuz, dem Symbol für die Unendlichkeit Gottes und gleichzeitig für die zeitliche Dimension des Unendlichen, die Ewigkeit. Das Kreuz steht für die Hoffnung auf ewiges Leben. Das ist Kunst gewordene Theologie!

Im frühen 20. Jahrhundert wurden Altar und Gitter im Zuge der Neu-Romanisierung des Münsters in das nördliche Seitenschiff verbannt. Doch in 1960er Jahren entschied man bei der großen Restaurierungskampagne, die ursprüngliche Situation wieder herzustellen. Damals wurde auch der Holzaltar geschaffen, über dem sich der Aufsatz mit der Heiligblut-Reliquie erhebt.

Der Heiligblutaltar mit dem Unterbau der 1960er Jahre

Doch nicht nur das. Die barocke Inszenierung wurde noch erweitert durch die neuen Fenster der Apsis, die ebenfalls im Zuge der Restaurierung entstanden sind. Sie greifen in Farbe und Form das Motiv des Heiligblutaltares und des Kreuzes auf. Besonders eindrücklich ist dies in der Dämmerung zu sehen. Denn bekommt die Inszenierung eine fast mystische Dimension.

Das Kreuz im zentralen Fenster der Apsis

Für die Benediktiner der Barockzeit war die Rückkehr der Heiligblut-Reliquie 1738 existentiell wichtig. Das Kloster Reichenau wurde damit noch einmal ein wichtiger Wallfahrtsort. Dies belegen sehr schön die vielen verschiedenen Wallfahrtskärtchen, die damals an die Pilger verteilt wurden. Hier eine Auswahl:

Das Kloster unterstand seit dem 16. Jahrhundert dem Bischof von Konstanz, und mit Hilfe der Wallfahrt hofften die Mönche, ihre Unabhängigkeit vom Bischof wieder zu erlangen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, im Gegenteil: Das Kloster wurde 1757 mit Gewalt aufgelöst. Aber das ist eine andere Geschichte.

Geblieben ist uns die wunderbare barocke Inszenierung der Ewigkeit.

Wer nähere Informationen über die Heiligblut-Reliquie sucht, dem sei das Büchlein von Walter Berschin und Theodor Klüppel „Die Reichenauer Heiligblut-Reliquie“ aus der Reihe „Reichenauer Texte und Bilder“ vom Mattes-Verlag empfohlen. Für die Abbildungen der Wallfahrtskärtchen danke ich Karl Wehrle, der mir seine Sammlung zur Verfügung gestellt hat.