Das Unendliche – Leopardi und Corona

Was für eine Aussicht bis zum Horizont! Man kann sich nicht satt sehen.

Giacomo Leopardi (1798 – 1837) ist einer meiner Lieblingsdichter und „L’infinito“ eines meiner Lieblingsgedichte. Leopardi war Philosoph und Autor, und er hat seine Vorstellung vom Glück oft in Verse gepackt (siehe auch Beitrag „Samstag im Dorf – Leopardi und Corona“). Die Übersetzung des Gedichts „L’infinito“ stammt von mir, auf der Basis des deutschen Texts von Hanno Helbling (Leopardi, Giacomo: Gesänge, Dialoge, Zibaldone. Düsseldorf/Zürich 1998).

L'Infinito
Sempre caro mi fu quest'ermo colle,
e questa siepe, che da tanta parte
dell'ultimo orizzonte il guardo esclude.
Ma sedendo e mirando, interminati
spazi di là da quella, e sovrumani
silenzi, e profondissima quïete
io nel pensier mi fingo, ove per poco
il cor non si spaura. E come il vento
odo stormir tra queste piante, io quello
infinito silenzio a questa voce
vo comparando: e mi sovvien l'eterno,
e le morte stagioni, e la presente
e viva, e il suon di lei. Così tra questa
immensità s'annega il pensier mio:
e il naufragar m'è dolce in questo mare.

Das Unendliche
Immer lieb war mir der einsame Hügel
und diese Hecke, die so großen Teil
des fernsten Horizonts vor mir verschließt.
Doch wenn ich sitz und schau,
dann stell ich mir Räume ohne Grenzen
vor, jenseits der Hecke, und ein Schweigen,
das übermenschlich ist, und Ruhe, so tief,
dass die Seele fast ein Grauen beschleicht.
Und wenn des Windes Rauschen durch
diese Blätter fährt, dann halt ich dem
Schweigen, dem unendlichen, diese
Stimme entgegen, zum Vergleich: Und ich
fühl die Ewigkeit und die toten
Jahreszeiten und diejenige, die heute lebt
und tönt. So versinken im Unermesslichen
mir die Gedanken:
Und Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere.

Leopardi stellt sich vor, auf einem Hügel zu sitzen, von dem aus er allerdings nicht den ganzen Horizont sehen kann, weil eine Hecke im Wege steht. Darüber könnte er sich nun ärgern, aber diese Hecke, die seine physische Welt begrenzt, lenkt seine Aufmerksamkeit von der äußeren Wahrnehmung nach innen, und plötzlich findet er sich in einer Welt wieder, die unbegrenzt ist, räumlich („interminati spazi“) und zeitlich („l’eterno“). Diese Welt erschafft sich der Dichter selbst, in seiner Phantasie: „io nel pensier mi fingo“: dreimal ist hier das lyrische Ich präsent, steht ganz im Zentrum des Gedichts. Die reale Welt ist immer begrenzt, doch das Universum, das der Dichter erschafft, kennt keine Grenzen, es ist unendlich.

Um aber die äußere Welt zu vergessen und ganz in sein Inneres einzutauchen, „süßen Schiffbruch“ zu erleiden, braucht der Dichter die Hecke, er braucht einen Widerstand, ein Hindernis.

Ich kenne das. Die Aussicht von meinem Büro aus ist phantastisch (siehe Foto oben), sie reicht bis in die Schweiz und den Rhein hinab. Doch wenn ich schreibe, lenkt sie mich ab. So ziehe ich Nebelwetter wie heute zum Schreiben vor. Der Nebel verhindert, dass ich den fernen Horizont sehe, und ich besinne mich auf meine innere Welt. Dann reise ich in ferne Zeiten (momentan zu den Karolingern) oder an ferne Orte, meiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

So schreibt sich’s besser!

Doch man darf Leopardis Aussage nicht nur wörtlich nehmen. Sein Gedicht enthält nämlich eine viel allgemeinere These: Wir brauchen Hindernisse, um unsere Phantasie zu stimulieren. Und umgekehrt: Die Phantasie hilft uns, Hindernisse zu überwinden, und zwar nicht einfach gerade so. Nein, da können grandiose Dinge entstehen, die im Vergleich zur realen, normalen Welt wunderbar sind!

Vielleicht sollten wir Corona auch so betrachten. Dieses Virus ist ein großes, ein riesiges Hindernis, das unsere reale Welt enorm einschränkt und uns ganz auf uns selbst zurück wirft. Es zwingt uns, mit Phantasie etwas Eigenes, Neues zu schaffen, einen Gegenentwurf zu dem, was wir bisher kannten. Dies geschieht bereits hunderttausendfach (siehe z.B. „Eine verrückte Henne“ unter Reichenauer Köpfe). Und das ist doch ein Aspekt, der Hoffnung macht!