Samstag im Dorf – Leopardi und Corona

Was ist Glück? Diese Frage bewegte den italienischen Dichter und Philosophen Giacomo Leopardi (1798 – 1837) während seines ganzen Lebens. Die verschiedenen Antworten, die ihm in den Sinn kamen, hat er in Gedichte gefasst, die zum schönsten gehören, was die italienische Literatur hervorgebracht hat.

Giacomo Leopardi

In seinem Gedicht „Il sabato del villaggio“ (Samstag im Dorf) beschreibt er, wie glücklich die Menschen am Samstag sind, weil sie in Vorfreude auf den Sonntag, den Feiertag, den freien Tag, schwelgen.

Il sabato del villaggio

La donzelletta vien da la campagna,
In sul calar del sole,
Col suo fascio de l’erba; e reca in mano
Un mazzolin di rose e di viole,
Onde, siccome suole,
Ornare ella si appresta
Dimani, al dì di festa, il petto e il crine.

Das junge Mädchen kehrt vom Feld zurück
Beim Untergang der Sonne, Mit ihrem Bündel Gras; und in der Hand trägt sie ein Sträußchen
von Rosen und von Veilchen,
Mit dem sie wie gewohnt,
Sich schmücken will
Am andern Tag, dem Sonntag,
den Busen und das Haar.

Siede con le vicine
Su la scala a filar la vecchierella,
Incontro là dove si perde il giorno;
E novellando vien del suo buon tempo,
Quando a i dì de la festa ella si ornava,
Ed ancor sana e snella
Solea danzar la sera intra di quei
Ch’ebbe compagni de l’età più bella.

Mit ihren Nachbarinnen sitzt
Auf einer Treppe das Mütterchen beim Spinnen,
Mit dem Gesicht nach jener Seite, wo der Tag vergeht;
Und sie fängt zu erzählen an von ihrer guten Zeit,
Als sie sich für den Sonntag schmückte,
Und noch gesund und schlank
Zum Tanze ging am Abend, gemeinsam
Mit den Gefährten ihrer schönsten Zeit.

Già tutta l’aria imbruna, Torna azzurro il sereno, e tornan l’ombre Giù da’ colli e da’ tetti,
A la luce del vespro e de la luna.
Or la squilla dà segno
De la festa che viene;
Ed a quel suon diresti
Che il cor si riconforta.

Schon dämmert es;
Der heitre Himmel färbt sich dunkelblau, die Schatten
fallen von den Hügeln und den Dächern
Im Licht Abends und des Monds, der steigt.
Nun gibt die Glocke Zeichen,
dass morgen Sonntag ist;
bei diesem Klang ist dir,
als ob das Herz gestärkt nun sei.


I fanciulli gridando
Su la piazzuola in frotta,
E qua e là saltando,
Fanno un lieto romore:
E intanto riede a la sua parca mensa,
Fischiando, il zappatore,
E seco pensa al dì del suo riposo.

Die Kinder tummeln schreiend sich
Am kleinen Platze,
Sie hüpfen hier und dort herum
Und machen muntren Lärm.
Indessen kehrt nach Haus zum kargen Mahl
Der Feldknecht; er pfeift sich eins
Und denkt an seinen freien Tag.

Poi quando intorno è spenta ogni altra face,
E tutto l’altro tace,
Odi il martel picchiare, odi la sega
Del legnaiuol, che veglia
Ne la chiusa bottega a la lucerna,
E s’affretta, e s’adopra
Di fornir l’opra anzi il chiarir de l’alba.

Als dann erloschen alle andren Lichter,
Und alles andre schweigt,
Hörst du den Hammer schlagen, hörst du die Säge
des Schreiners, der noch wach
in der geschlossnen Werkstatt beim Lampenschein
sich eilt, sich müht,
die Arbeit vor Sonnenaufgang zu beenden.

Questo di sette è il più gradito giorno,
Pien di speme e di gioia:
Diman tristezza e noia Recheran l’ore, ed al travaglio usato Ciascuno in suo pensier farà ritorno.

Dies ist der beste Tag von sieben,
Voll Hoffnung und voll Glück:
Verdruss und Trauer werden morgen
Die Stunden beherrschen, wenn jeder in Gedanken
Zurück zur Arbeit aller Tage kehrt.

Garzoncello scherzoso,
Cotesta età fiorita
È come un giorno d’allegrezza pieno,
Giorno chiaro, sereno,
Che precorre a la festa di tua vita.
Godi, fanciullo mio; stato soave,
Stagion lieta è cotesta.
Altro dirti non vo’; ma la tua festa
Ch’anco tardi a venir non ti sia grave.

Vergnügter Jüngling,
Dein blütengleiches Alter
Ist wie ein Tag voll Fröhlichkeit,
Ein heller, heitrer Tag,
Dem Sonntag Deines Lebens vorangesetzt.
Genieße ihn, mein Kind; ein süßer Zustand,
eine freudige Zeit ist dies.
Mehr will ich nicht sagen; nur, dass dein Sonntag
Noch nicht gekommen ist, es soll dich nicht bekümmern.

Die Arbeit des Samstags (der damals noch nicht frei war) geht seltsam beschwingt vonstatten, der Schreiner tut alles, um noch fertig zu werden, das Mädchen sammelt auf der Wiese nicht nur Futter für die Tiere, sondern auch Blumen, um sich am Sonntag schön zu machen, sogar der arme Feldknecht pfeift ein Liedchen. Dazwischen die alte Frau, die sich an die Samstage ihrer Jugend erinnert und darin ihr Glück findet. Nicht der freie Sonntag ist der schönste Tag der Woche, sondern der arbeitsreiche Samstag, an dem wir uns auf den Sonntag freuen. Symbol für all dies sind die Abendglocken, die den Sonntag einläuten.

Die Kirche Sankt Peter und Paul in der Abenddämmerung

Am eigentlichen Feiertag hingegen denken alle schon wieder an die Arbeit der kommenden Woche und sind unglücklich und verdrossen. Am Ende vergleicht Leopardi die Jugendzeit mit dem Samstag und das Erwachsenendasein mit dem Sonntag. „Godi fanciullo mio!“ ist sein Appell an die Jugend, „Genieße die Jugend, mein Kind!“

Was hat dieses Gedicht mit uns und der gegenwärtigen Situation zu tun?

Wir arbeiten Tag für Tag im Büro, auf dem Feld, in der Werkstatt, in der Schule oder anderswo. Und worauf freuen wir uns während der Arbeit? Auf den Feierabend, auf das Wochenende, auf den Urlaub. Glückliche Vorfreude auf Abendrituale wie Treffen mit Freunden, Volkshochschulkurse, Sport oder Musikproben, auf Wochenendaktivitäten wie Theater, Kino, Feste und Besuche bei Freunden und Verwandten, und aufs Jahr gesehen auf Reisen nach Italien, Spanien oder auf die Seychellen. In Zeiten von Stress hält diese Vorfreude uns oft aufrecht. In Zeiten von Corona gibt es kaum noch Vorfreude. Wir arbeiten oder sind zu Hause, aber wir haben momentan fast keine Rituale oder Aktivitäten mehr, auf die wir uns freuen könnten. Alles abgesagt.

Und jetzt?

Leopardi gibt uns zwei Antworten. „Godi fanciullo mio!“ ruft er uns zu. Genießt die Gegenwart, das Zuhausesein, die Ruhe, die Abwesenheit von Stress, pflegt euren Balkon, lest Bücher, macht Hausmusik, schreibt Briefe, werdet kreativ. Viele Menschen haben das begriffen und entwickeln fantastische Ideen.

Das alte Mütterchen zeigt uns eine andere Möglichkeit des Glücks. Wenn man selbst nicht mehr tanzen kann, dann sollte man die Erinnerung an frühere Tänze genießen. Nachfreude sozusagen. Ordnen wir endlich die Fotos von den Urlauben der letzten Jahre und erzählen wir uns gegenseitig, was wir alles erlebt haben.

Irgendwann wird zur Freude über die Vergangenheit und die Gegenwart auch wieder die Freude auf Zukünftiges kommen. Freuen wir uns darauf!