Autos, Kunst und Geschichten – Reinhard Böhler

Eine Autowerkstatt im Hinterhof, ein Büro voller Gemälde und ein Mechaniker, der 1000 Geschichten weiß – wer die Werkstatt von Reinhard Böhler in der Kreuzlingerstraße in Konstanz aufsucht, der gelangt unversehens in einen ganz eigenen Kosmos. Dafür muss man Zeit mitbringen.

Seit 45 Jahren arbeitet der gebürtige Reichenauer in seinem eigenen Betrieb. Hier, am Rande der Stadt, befand sich schon vor 300 Jahren eine Fuhrhalterei, Pferde standen im Stall oder auf der Weide, ein Bach diente als Tränke. Wenn Wagen kaputt gingen, wurden sie repariert.

Ein Landaulet über der Eingangstür zum Hinterhaus

Im 19. Jahrhundert wurden im Hinterhaus Landaulets, edle Pferdekutschen, gebaut, nach dem ersten Weltkrieg waren es Omnibusse. Der Vater von Christine Wieser, der Reichenauer Schlosserin, hat hier sein Handwerk gelernt. Nach dem zweiten Weltkrieg reparierte die Firma Storz in der Werkstatt Karosserien. Und 1975 übernahm Reinhard Böhler als Mechaniker und Autohändler das Anwesen.

Heute befindet sich im Hinterhaus das Reifenlager.

Begonnen hatte er mit einer Lehre auf der Insel Reichenau bei Berno Beck, später machte er die Meisterprüfung und schließlich noch eine Ausbildung als Betriebswirt. In der Kreuzlingerstraße startete er zunächst mit dem Verkauf englischer Fahrzeuge. Modelle wie Morgan, das James-Bond-Auto Aston Martin oder Jaguar fanden ihre Abnehmer, auch in der nahen Schweiz.

Später handelte Reinhard mit Volkswagen, Volvo oder Saab. Es war manchmal ein holpriger Weg, aber ihm war immer wichtig, selbständig zu sein. „Ich bestimme!“ war seine Devise. Er hat es geschafft. Und: „Manchmal bin ich zufrieden.“

Viele hundert Menschen hat Reinhard in den letzten Jahrzehnten durch seine Arbeit kennengelernt, Handwerker ebenso wie Künstler, Ärzte, Psychologen und Psychiater, Manager, sogar einen Geldbeutelproduzenten aus Hamburg. Und er hat ihnen nicht nur Autos verkauft oder repariert, sondern mit ihnen geredet und sich ihre Geschichten angehört. Entweder in seinem Büro oder im Café. Denn zu Reinhards Morgenritual gehört, dass er um 9 Uhr die Werkstatt zuschließt und Kaffee trinken geht, früher im Hochhauscafé in Kreuzlingen, später in Gottlieben bei den Hüppen. So viel Zeit muss sein!

Aber er hört sich nicht nur Geschichten an, er ist auch selber ein wunderbarer Erzähler. Und darum sollte man Zeit mitbringen, wenn man seine Werkstatt besucht!

Reinhard Böhler wurde auf der Reichenau geboren, im Melcherleshorn. Sein Vater war Fischer. Als der junge Rekrut 1973 den Kriegsdienst verweigerte, wurde ihm das übelgenommen, und so ist er von der Insel fortgezogen nach Konstanz. Doch er fühlt sich als Reichenauer, und aus der Distanz betrachtet findet er seine Heimatinsel durchaus positiv.

Das fällt sofort auf, wenn man sein Büro betritt. Sieht man in anderen Autowerkstätten die obligatorischen Pirelli-Kalender mit leichtbekleideten Frauen, so hängen, liegen und stehen in Reinhards Büro nur Bilder von der Reichenau: Postkarten, Zeichnungen, Aquarelle oder Ölgemälde. Circa 200 Werke finden sich in seiner Sammlung, wie viele es genau sind, weiß er nicht, auch nicht, wieviel Geld er dafür ausgegeben hat.

Es ist wie eine Sucht. Auf Auktionen und im Internet steigert er mit. Einmal hat er im Internet ein Bild von Heinrich Lotter (1875 – 1941) erkannt. Der Name war falsch geschrieben und Reinhard der einzige, der es bemerkte. Das Bild stammte von der Mutter eines jungen Paares in Karlsruhe, der Großvater war Richter dort gewesen, ein Jurist, wie Lotter. Vielleicht kam das Gemälde auf diesem Weg in den Besitz der Familie?

Zu jedem seiner Bilder hat der Sammler eine Geschichte parat.

Einen Teil der Sammlung hat er 2017 in der Schlossereiwerkstatt von Christine Wieser auf der Reichenau ausgestellt. Die Zuschauer sollten raten, welcher Ort der Insel auf den Bildern dargestellt ist. Hauptgewinn: eine Flasche Reichenauer Wein. Allein am ersten Tag kamen 250 Besucher und alle waren begeistert. Für dieses Jahr war wieder eine Ausstellung geplant, aber die fiel Corona zum Opfer.

Doch Reinhard Böhler hat noch andere Ideen. Gemeinsam mit Gleichgesinnten würde er gerne auf der Reichenau einen Skulpturengarten nach dem Vorbild von Allensbach eröffnen.

Der nächstliegende Schritt wäre jedoch eine Dokumentation seiner Sammlung. Allein, ihm fehlt die Zeit. Selbstironisch merkt er an: „Hoffentlich kann ich noch lange hier arbeiten, sonst würde ich nur im Internet surfen und weitere Bilder ersteigern. Ich würde Haus und Hof verzocken.“

Reinhard Böhler zeigt mir alte Postkarten von der Reichenau

Begonnen hat seine Sammelleidenschaft vor etwa 30 Jahren – natürlich! – mit einer Geschichte. Die hatte allerdings noch nichts mit der Reichenau zu tun.

Die Mutter eines Freundes, Maria Hummel, war eine erfolgreiche Künstlerin und gab auch Malunterricht. Eines Tages wollte Reinhard dem Freund einen Überraschungsbesuch abstatten. Als er den Garten betrat, glaubte er zu träumen: Auf der Wiese lag eine wunderschöne Frau mitten im Gras. Nackt! Die Malschüler, die um das Modell herumsaßen, nahm er erst beim zweiten Hinschauen wahr. Später half er der Künstlerin beim Autoverkauf, und zum Dank durfte er sich ein Bild aussuchen. Für ihn war klar, welches:

Die Frau aus dem Garten

„Das war die Initialzündung.“

Als er dann bei einer Auktion Bilder von der Reichenau sah, fing er an, diese zu sammeln. Zum Beispiel drei Aquarelle von Heinrich Lotter:

Anwesen Banholzer, Melcherleshorn

Haus von Hatto Keller, Merzengasse

Das Elternhaus von Reinhard Böhler im Melcherleshorn, Nr. 362

Auf dem nächsten Bild glaubt Reinhard, dass er vielleicht selber mit dargestellt ist. Es ist 1957 entstanden und zeigt einen Acker bei der heutigen Waldsiedlung, im Hintergrund die Reichenau. Reinhards Familie hatte dort einen Kartoffelacker, er war zu jener Zeit vier Jahre alt und musste mit aufs Feld. Ob er der Junge links ist?

Kartoffelacker bei der heutigen Waldsiedlung

Das nächste Bild stammt von Otto Ubbelohde (1866 – 1922). Er kam aus Marburg, war Maler und Buchillustrator, der unter anderem Bilder zu Grimms Märchen gezeichnet hat. Er hielt sich auch in der neu gegründeten Künstlerkolonie Worpswede auf, und in den 1890 Jahren verbrachte er wie viele andere Maler immer wieder seine Ferien auf der Insel Reichenau. Einer seiner Nachkommen, Hans Wilhelm Ubbelohde, war übrigens lange Jahre Pfarrer in Allensbach.

Ruine Schopflen von Otto Ubbelohde

Natürlich befinden sich in der Sammlung von Reinhard Böhler auch Bilder von Bernhard Schneider-Blumberg. Hier der Blick von der Hochwart von 1920:

Blick von der Hochwart von Bernhard Schneider-Blumberg

Eine seiner neuesten Erwerbungen ist ebenfalls ein Gemälde von Bernhard Schneider-Blumberg (1881 – 1956). Reinhard hat es bei einer Auktion in Radolfzell gekauft. Der Nachlass eines „reichen Schnösels“ wurde da versteigert, „eine richtige Lumpensammlung.“ Reinhard hat unter dem „Lumpenzeug“ das Kleinod von 1920 mit der Gärtnersfrau entdeckt.

„Gärtnersfrau“ von Bernhard Schneider-Blumberg

Eine besonders schöne Geschichte erzählt Reinhard zum folgenden Bild.

Es ist laut Signatur im April 1959 entstanden und stammt von Otto Honsalek (1890 – 1970), einem Maler aus dem Ruhrgebiet.

Signatur des Malers Otto Honsalek

Als das Bild entstand, war Reinhard 6 Jahre und 1 Monat alt. Der Maler machte damals Ferien auf der Insel Reichenau und kam mit seiner Staffelei und einem Hocker ans Seeufer hinter dem Elternhaus im Melcherleshorn. Dort malte er den ganzen Tag: die Fischernetze von Reinhards Vater, das Kiesschiff von Meichle und Mohr, das täglich von Langenargen nach Radolfzell fuhr, sogar die Nachbarskatze. Klein Reinhard gesellte sich zu dem Künstler und schaute sich an, was der so malte. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. „So ein Gekritzel“, dachte er, „das könnte ich auch. Und dann auch noch die Katze vom Hatto Keller!“ Am Abend brachte der Maler das Bild zu Reinhards Vater: „Ich lass es Ihnen mal da.“ Der Vater war ähnlich begeistert wie der Sohn. Als der Maler fort war, sagte er: „Der soll mal was Richtiges schaffen, nicht so ein Zeug malen, wo man nichts erkennt.“ Am nächsten Tag kam Honsalek wieder und wollte 300 DM für das Bild haben. „Für sowas haben wir keinen Platz“, lautete die Antwort des Vaters.

Knapp 60 Jahre später hat Reinhard Böhler das Bild wiedergesehen: Bei einer Internetauktion im Ruhrgebiet. Niemand dort wusste, wo sich das dargestellte Seeufer befand. „Ich schon, bei uns hinterm Haus.“ Er war der einzige Bieter und erhielt den Zuschlag. 39 Euro hat er bezahlt.

Geschichten wie diese sind für Reinhard Böhler ein Grund für seine Sammlung: Er will, dass solche Bilder – und damit ein Stück Reichenauer Geschichte – nicht im Müll landen.

Wer also die Autowerkstatt in der Kreuzlingerstraße besucht, muss Zeit mitbringen. Nicht umsonst hat die Uhr dort keine Zeiger!