Christus am Wege IV – der liberale und der konservative Christus

Eine besonders interessante Geschichte steckt hinter dem Kreuz an der Ecke, wo die Eginostraße von der Niederzellerstraße abzweigt. Es ist das westlichste aller Wegkreuze und steht in Sichtweite der Kirche Sankt Peter und Paul. Christus schaut nach Osten.

Das Kruzifix hat einen interessanten Aufbau: Auf einer Sandsteinplatte erhebt sich ein Sockel mit einer beschrifteten Marmorplatte. Darüber steht ein Steinblock mit vier gotisierenden Edikolen, die sich eigentlich anbieten würden für weitere Inschriften, aber leer sind. Über diesem Block erhebt sich das Kruzifix, dessen Balken einen quadratischen Grundriss mit Hohlkehlen an den Kanten aufweisen.

Die Edikolen

Der vergoldete Christus ist auf der Insel einzigartig. Er ist zwar mit realistischem Körper dargestellt, aber seine Haltung ist anders als bei allen anderen Kreuzen. Er ist nämlich nicht tot! Sein Blick ist zum Himmel erhoben, auch trägt er keine Geißelspuren, es ist keine Seitenwunde erkennbar und seine Füße sind mit 2 Nägeln an den Stein geheftet.

Damit entspricht er vom Typus her den „Viernagelkreuzen“ der Romanik. Und davon haben wir ein prominentes Beispiel auf der Reichenau, das sogenannte „Oberzeller Kreuz“ von 1120/40.

Der Name ist irreführend, dieses Kreuz hat vermutlich zunächst in Sankt Peter und Paul als Triumphkreuz im Chorbogen gedient. 1644 wurde es in der Kindlebildkapelle aufgehängt, Ende des 19. Jahrhunderts dort „wiederentdeckt“ und nach Sankt Georg in Oberzell gebracht, daher die Bezeichnung. Aktuell hängt es in der Schatzkammer des Münsters Sankt Maria und Markus. Es hat also eine Wanderschaft durch alle Reichenauer Ortsteile hinter sich, einschließlich dem Festland.

Das Kreuz ist aus Holz geschnitzt und spiegelt in seiner Gestaltung die Frömmigkeit des Hochmittelalters wider: Die frühen Christen konnten sich ihren Gott und Herrn nicht als gemeinen Verbrecher vorstellen, der den schändlichsten Tod von allen erleidet, die Kreuzigung.

So kommt es, dass in frühesten Darstellungen zwar das Kreuz als Symbol erscheint, aber ganz ohne Corpus. Hier ein Beispiel aus Ravenna: Ein Mosaikkreuz in der Apsiskalotte der Kirche Sant’Apollinare in Classe aus dem 6. Jahrhundert. Es ist nur der Christuskopf im Zentrum der Kreuzesarme zu erkennen.

In der karolingischen und romanischen Kunst wird Christus dann zwar am Kreuz dargestellt, aber eben so: Er ist nicht tot, sondern hat die Augen offen. Hier schaut er nach rechts zum guten Schächer. Die Finger sind gestreckt, er hat keine Wunden und seine Füße stehen fest auf einem Sockel, an den sie mit zwei Nägeln geheftet sind. Er ist zwar gekreuzigt, aber dennoch der triumphierende Christus.

Erst mit der Mystik des 14. Jahrhunderts ändert sich die Gestaltung. Nun will man sich in das Leiden Jesu vertiefen, man will die Passion miterleben, und entsprechend bemitleidenswert werden forthin die Christusfiguren dargestellt. Dafür ist der Christus an der Abt-Berno-Straße auf dem Weg von Niederzell nach Mittelzell ein gutes Beispiel. Er ist tot, der Kopf geneigt, die Füße mit nur einem Nagel angeheftet, die Finger gekrümmt.

Das Kreuz in der Eginostraße wurde laut Tafel am 4. November 1890 von Konstantin Wurz gestiftet. Franz Wurz, der Urenkel von Konstantin Wurz, hat mir die Geschichte dazu erzählt, so wie sie in der Familie überliefert wurde. Da hieß es, im Stiftungsjahr habe die Pest gewütet, und Konstantin Wurz, der mehr als 10 Kinder hatte, ließ das Kreuz aufstellen, um die Krankheit von seiner Familie abzuwenden. Ein Pestkreuz also.

Wenn man nachforscht, findet man jedoch keine Hinweise auf eine Pestepidemie am Ende des 19. Jahrhunderts. Dafür gab es in den Jahren 1889/90 eine andere Pandemie, die weltweit etwa 1 Million Menschen das Leben kostete: die Influenza. Da sie sich von Russland aus über Eisenbahnlinien und Handelswege ausbreitete, wurde sie auch die Russische Grippe genannt. Vermutlich wollte Vater Wurz seine Kinder vor dieser Viruskrankheit schützen. Damals wusste man noch zu wenig über Vorsorgemaßnahmen, es gab keine Maskenpflicht und keine Abstandsregelungen, und so wandte man sich an höhere Mächte um Schutz. Nach Auskunft von Franz Wurz sind tatsächlich nur wenige Mitglieder der Familie verstorben.

Doch es gibt noch eine weitere kuriose Geschichte um die beiden Wegkreuze, dem in der Abt-Berno-Straße und dem in der Egino-Straße. Und die hängt mit den Stiftern zusammen. Die Familie Wurz ist eine alteingesessene Niederzeller Familie, ebenso wie die Familie Spicker, die Stifter des anderen Kreuzes.

Beide Kreuze sind in einer Zeit entstanden, in der in Deutschland der sogenannte „Kulturkampf“ tobte. Liberale Kreise forderten eine Trennung von Kirche und Staat nach französischem Vorbild, und 1871 erließ Reichskanzler Bismarck Gesetze, die den Einfluss der katholischen Kirche zurückdrängten. Die Kirche unter Papst Pius IX. versuchte dagegen anzukämpfen, ein Riss ging durch die Gesellschaft, und in ganz Deutschland standen sich „Liberale“ und „Konservative“ unversöhnlich gegenüber. Die folgende Karikatur zeigt den Kampf zwischen Berlin und Rom als Schachpartie zwischen Bismarck und dem Papst.

(Von Wilhelm Scholz – Kladderadatsch 16. Mai 1875; https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9959967)

Der Kulturkampf wurde auch auf der Reichenau geführt. Rom und Berlin legten den Konflikt zwar 1887 diplomatisch bei, aber auf der Insel kam diese Nachricht wohl erst mit Verspätung an. Hier wurde weitergekämpft, zumindest symbolisch. Die Familie Spicker war liberal gesinnt, die Familie Wurz hingegen konservativ. Und das musste der jeweilige Christus büßen. Normalerweise schlug man das Kreuzzeichen, wenn man an einem Feldkreuz vorbeikam. Wenn aber ein Spicker das Wurz-Kreuz passierte, verweigerte er diese Geste, dasselbe geschah, wenn ein Wurz am Spicker-Kreuz vorbeiging – kein Kreuzzeichen.

So mussten die beiden Christusfiguren die politischen Querelen der damaligen Zeit ausbaden. Aber sie haben auch dies überstanden!

Hier sind sie noch einmal nebeneinander zu sehen:

Der liberale Christus

Der konservative Christus