Weihnachts-Insel

Ein Spaziergang über die Insel Reichenau zur Weihnachtszeit birgt vor allem gegen Abend einen ganz besonderen Zauber. Die romanischen Kirchen sind festlich geschmückt und beleuchtet. In jeder der drei Kirchen steht eine Krippe mit eigener Geschichte und eigenem Charme.

Noch wird Sankt Georg von der Abendsonne angestrahlt.

Doch schon bald erstrahlt die Kirche in der Beleuchtung, die momentan getestet wird und für alle Reichenauer Kirchen geplant ist. Ein bisschen geheimnisvoll, dezent, aber meiner Meinung nach sehr gelungen.

Was verbirgt sich wohl hinter den romanischen Fenstern?

Auf der Südseite des Kirchenschiffs steht noch das Baugerüst für die Renovierung. Am Treppenaufgang zum Altar wurde dieses Jahr die Krippe aufgebaut. Normalerweise befindet sie sich im linken Seitenschiff. Es ist eine Stationenkrippe, in der verschiedene Momente der Weihnachtsgeschichte dargestellt sind: Die Verkündigung, die Geburt Jesu, die Aufopferung im Tempel, die Anbetung der Könige, die Flucht nach Ägypten und der Kindermord zu Betlehem. Über 30 Menschenfiguren stellen all die Szenen dar, dazu kommen noch etwa 15 Tiere. Doch dieses Jahr konnte Messnerin Anne Weltin wegen des Gerüsts nur eine Station aufbauen: Die Geburt mit der Anbetung der Hirten.

Der Stall mit dem Jesuskind, Maria und Josef steht im Zentrum. Einige Hirten knien vor dem Kind, andere kommen mit ihren Schafen herbei.

(Foto mit freundlicher Genehmigung von Raimund Franke)

Die Figuren wurden 1943 vom Kirchenmaler Josef Lehn aus Markdorf aus Holz geschnitzt und bemalt. Sie sind etwa 50 cm groß. Bezahlt wurden sie von den Reichenauern damals mit Schinken, Brot und Speck. Die Personen wirken außergewöhnlich streng. Offenbar war dem Künstler während der Kriegszeit nicht zum Lachen zumute.

Links vom Stall wurde die Altartreppe in die Landschaft integriert. Mehrere Hirten steigen mit Musikinstrumenten von den „Bergen“ herab. Man erkennt einen Dudelsack und eine Flöte.

Unser Spaziergang führt nun in den äußersten Westen der Insel, nach Sankt Peter und Paul.

Dort steht die Krippe auf dem linken Seitenaltar, wo sonst die Büsten der beiden Namenspatrone Peter und Paul platziert sind. Die haben jetzt ihren Ehrenplatz auf dem Hauptaltar bekommen. Im Hintergrund sieht man die romanischen Wandmalereien.

Krippe und Figuren sind hier sehr viel kleiner als in Sankt Georg. Es sind ebenfalls Holzfiguren, aber das Besondere ist: Die Figuren in St. Peter und Paul sind nicht bemalt. Was hat es damit auf sich? Bei einer Pilgerreise mit Pater Stephan nach Israel entdeckten die Teilnehmer dort Krippenfiguren aus Olivenholz. Da die alten Niederzeller Figuren nicht mehr so schön waren, wurde beschlossen, einen Grundstock solcher Figuren zu kaufen. Bei weiteren Reisen ins Heilige Land wurde die Krippe nach und nach ergänzt.

Seither gestaltet Johannes Hafner jedes Jahr die Krippenlandschaft. Er versucht ihr ein südliches Gepräge zu geben durch hellen Sand, Bäume aus Wurzelholz und Kristalle als Felsen. Die Bäumchen im Hintergrund wirken wie Zypressen. Der Stall ist eine Art Blockhütte. Er wurde von Rolf und Fredi Winterhalter für die neuen Figuren gebaut.

Der israelische Holzschnitzer hat das Olivenholz so verwendet, dass dessen natürliche Färbung und Maserung die Figuren gestaltet. Marias lächelndes Gesicht strahlt hell, der dunklere Teil des Holzes bildet ihren Schleier, der den Hals umschließt.

Auch bei den Heiligen drei Königen sieht man sehr schön, wie der Künstler mit dem Holz umgegangen ist. Beim ersten König dient der dunklere Teil des Holzes als Mantel und Turban, der hellere wurde für Untergewand und Gesicht verwendet. Beim zweiten König ist es umgekehrt. Man achte vor allem auf dessen linkes Knie und das Weihrauchgefäß!

Besonders reizvoll ist auch der Hirte mit der Fellhose und der modischen Frisur. Er scheint sich wie im Tanz zu drehen, dabei sehen seine nackten Füße durch das dunklere Holz schmutzig aus.

Wenn man die Kirche verlässt, wirkt selbst der Friedhof festlich. Die Toten haben rote Grablichter bekommen, und die Straßenlaternen zeigen den Lebenden den Weg. Im Westen hinter dem „Bürgle“ kämpft das letzte Abendlicht mit den dunklen Wolken.

Dann führt der Weg nach Mittelzell ins Münster, wo uns der Höhepunkt unserer Krippentour erwartet. Auf den ersten Blick ist der größten Reichenauer Kirche nicht viel anzusehen.

Steht man vor dem Turm, schimmert jedoch ein Fenster eigenartig blau.


Wenn man dann den Kirchenraum betritt, ist man überwältigt von der Farbinszenierung, die Lukas Hafner auch dieses Jahr wieder geschaffen hat (siehe Beitrag unter Reichenauer Köpfe „Das Gebrause der Orgel“).

Der Chor und die Vierung sind blau erleuchtet und weisen gemeinsam mit den Lichtern an den Tannen den Weg nach vorne. Das Licht über dem Altar wirkt wie der Stern von Betlehem.

Doch wenn man sich im Mittelschiff umwendet, sieht man, dass der Markusaltar in der romanischen Westapsis nicht minder spektakulär beleuchtet ist. Eine fantastische Lichtinszenierung!

Geht man im linken Seitenschiff nach vorne, steht man vor der Krippe, die von Familie Hafner gestaltet wurde.

Die Krippenfiguren sind die größten auf der Insel, circa einen halben Meter hoch. Maria, Josef, das Kind und Ochs und Esel sind aus Holz. Laut Karl Wehrle stammen sie wohl noch aus dem 19. Jahrhundert und sind damit die ältesten Krippenfiguren auf der Insel. Die übrigen Figuren sind aus Gips und Porzellan. Der Stall wurde vermutlich in den 1930er Jahren gebaut. Er besteht aus einem Holzrahmen, zwischen den Jute gespannt und bemalt wurde. Mit der Gestaltung der seitlichen Fenster wollte man an die Architektur des romanischen Münsters anknüpfen.

(Foto mit freundlicher Genehmigung von Raimund Franke)

Das Besondere an dieser Krippe ist jedoch das Hintergrundbild. Es stammt von dem bekannten Maler Bernhard Schneider-Blumberg (1881-1956), der viele Jahre auf der Reichenau lebte. Der Stall wirkt nach hinten offen, der Blick fällt auf das nächtliche Betlehem, das in himmlischem Licht erstrahlt. Der Künstler hat die Stadt nach einer historischen Vorlage dargestellt. Über den Dächern erkennt man die Milchstraße und den Stern, der die Weisen zum neugeborenen König der Juden geleitet. Die ganze Szenerie ist in blauen Farben gehalten, und es wirkt, als ob sich das Blau von hier in die Kirche ausgebreitet hätte.

Mit diesem Hintergrundbild knüpft der Maler an eine Krippentradition an, die man vor allem aus Italien kennt. Dort soll der Heilige Franziskus im Jahr 1223 in Greccio im Latium die erste lebende Krippe inszeniert haben, il „Presepe vivente“. Noch heute ist Italien das Land der Krippen. Dabei steht Neapel an vorderster Stelle, wo es sogar eine eigene Straße gibt – die Via San Gregorio Armeno – , in der sich nur Läden für Krippenbedarf befinden. Neben Krippenlandschaften und Hintergrundbildern werden vor allem Figuren verkauft. Zu den beliebtesten Krippenfiguren gehören dort Fußballspieler wie Diego Maradona und Politiker wie Giuseppe Conte.

Foto von Genny di Virgilio, dem Schöpfer der Figuren.

Doch in diesem Jahr ist eine andere Person der Star unter den Krippenfiguren: Die Krankenschwester mit Corona-Maske, die beschützend den italienischen Stiefel in Händen hält.

Foto von Genny di Virgilio, dem Schöpfer der Figuren.